ECCE HOMO ? ECCE HOMO !
Liebe Gemeinde,

Wer bist Du, Mensch? Warum bist Du, Mensch? Warum bist Du Mensch? 
Wo bist Du, Mensch? Wo bist Du Mensch? Wozu, wann, wie? 
Wie willst du Mensch sein? Kannst du Mensch sein? Sollst du Mensch sein? Wie kannst du Mensch werden? – Wer bist Du, Mensch?
Ein Spielen mit Fragen. Aber finden wir außer den Fragen auch Antworten?

In einer Kundenzeitschrift einer Supermarktkette hieß es vor Jahren: 
Wussten Sie das? Der Mensch besteht aus folgenden Bestandteilen: 
Phosphor für 6000 Streichhölzer;
 Fett für 50 kleine Kerzen oder 15 Stück Seife,
Kalk für eine Menge, mit der man einen Hühnerstall weißen könnte,
20 gehäufte Esslöffel Kochsalz,
Glyzerin, das zur Herstellung von 15 kg Sprengstoff reicht,
¼ Pfund Zucker, 1 Prise Kupfer, 14 kg Knochen, 1,1 kg Haut, etwa 50 Liter Wasser und aus ein paar weiteren Kleinigkeiten.

Wer bist Du, Mensch?
In der Bibel lesen wir in Psalm 8: „ Herr unser Herrscher, wie gewaltig ist auf der ganzen Erde dein Name. Seh´ ich den Himmel, das Werk deiner Finger, Mond und Sterne, die du befestigt: Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?
Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt. Du hast ihn als Herrscher eingesetzt über das Werk deiner Hände, hast ihm alles zu Füßen gelegt.“ – Wer bist du, Mensch?

Und Erich Fried, sie kennen ihn vielleicht mit seinen typischen Gedichten, schreibt:
Ein Hund, der stirbt, 
und der weiss, dass er stirbt wie ein Hund,
und der sagen kann, dass er weiss, dass er stirbt wie ein Hund, 
ist ein Mensch.

Wer bist du, Mensch?
Ja, Sprache und Bewusstsein machen dich zum Mensch; 
ja, dass da ein Gott ist, der dich will, der sich deiner annimmt, völlig unerwartet, und dir Größe und Ehre schenkt – es macht dich zum Menschen;
ja, dass du aus Materie bestehst, aus Kochsalz und Wasser, aus tausend Elementen und Molekülen, in abenteuerlichen Mikrokosmen und chemisch-physikalischen Abläufen – ja, auch all das macht dich zum Menschen. Und vielleicht bleibt gerade deshalb die Frage: Wer bist du, Mensch?

ECCE HOMO? ECCE HOMO! so der Titel der Ausstellung, die wir heute eröffnen. Sieh ihn, den Menschen. Sieh ihn, so vielfältig und vielschichtig er ist. Und, so möchte ich anfügen: sieh hin, such ihn, aber hab` keine Angst. 
Auch der Katholikentag in Leipzig stellt seine Veranstaltungen bewusst unter diese Frage. Es ist nicht nur eine zutiefst menschliche, es ist auch die christliche Frage.

Die Objekte und Bilder der Ausstellung hier in St. Canisius, die heute eröffnet wird, sind mit derselben Fragestellung ausgesucht. Wer bist du, Mensch? 
Und so vielfältig die Antworten darauf sind, so vielfältig sind auch die Bilder, die Objekte, die Stoffe und Materialien, die wir finden. Manches ist gefällig, es schaut uns freundlich an. Manches ist sympathisch, manches verstörend, verwirrend, auch provozierend. 
Bist du das, Mensch, wenn Trauer und Depressionen dein Leben zerstören, wenn Leidenschaften dich an den Abgrund führen, wenn Gewalt und Terror dich grausam machen? Wir finden vieles in dem, was Menschen künstlerisch hier zum Ausdruck bringen, wir finden es auch als Spuren in uns: Freude, Lust und Glück – Schmerz, Ohnmacht und Schuld. Es ist das Antlitz des Menschen, das wir schauen können, in all dieser Vielschichtigkeit, in seiner Tragik wie in seinem Glück. Und die Bilder und Objekte könnten noch durch weitere ergänzt werden, auch durch Bilder, Geschichten und Gesichter, die jeder von uns mitbringen könnte.
Wer bist du, Mensch?
Was kann der Glaube, was kann die Kirche in den Dialog mit der Kunst zu dieser Frage einbringen. Es ist ja auch ein Anliegen, warum diese Ausstellung gerade hier stattfindet.

Ich schaue auf das Fest, das wir heute feiern: Christi Himmelfahrt. Und ich höre noch Paulus, wie er sagt: „Er, der Gott Jesu Christi, erleuchte die Augen eures Herzens, damit ihr versteht, zu welcher Hoffnung ihr durch ihn berufen seid.“ 
In der Himmelfahrt Jesu eröffnet Gott dem Menschen eine Zukunft, eine Zukunft, in der der Mensch Heimat finden und ankommen darf. Er zeigt ihm eine Beziehung, die ihm zur Bleibe werden darf, in der die Wunden heilen, das Schwache stark werden darf, das Unvollendete seine Vollendung finden kann. In diesem letzten Blick auf den Menschen Jesus, in der Himmelfahrt, zeigt Gott an ihm und damit auch uns als seine menschlichen Brüder und Schwestern, wie das Leben den Tod endgültig besiegt, wie dem Tod die Zukunft und das letzte Wort über das Leben genommen ist. Auch wenn die Wunden als verklärte Wunden bleiben, denn sie bleiben die Spuren unseres konkreten Lebens, auch wenn das Kreuz in irgendeiner Form immer zum Leben gehören wird, auch wenn Schuld und Ohnmacht und Abgründe immer Teil unseres Lebens sein werden, so zeigt Gott mit der Menschwerdung und Himmelfahrt seines Sohnes, dass sein Ja zu allem Menschsein durch nichts und niemanden mehr genommen werden kann. Die Macht seiner Liebe zu uns Menschen ist stärker als jede Liebe zur Macht und zur Gewalt, stärker als Hass und Tod. 
Erkennt, so sagt Paulus, und lebt daraus, ohne Angst und Furcht, dass ihr durch ihn zu einer Hoffnung berufen seid, für die Gott selbst das Menschsein angenommen und zur Vollendung geführt hat. Im menschlichen Antlitz dürfen wir nun auch das göttliche Antlitz erkennen, im Leid wie auch im Glück. Er ist uns nahe, in allem.

Und doch sind uns dieses Vertrauen und diese Gewissheit nur als Verheißung und Hoffnung gegeben. Wir haben unser Leben noch nicht zu Ende gelebt. Unser Menschsein bleibt immer auch noch Menschwerdung, in der, solange wir leben, sich Himmel und Erde jeden Tag immer wieder neu begegnen, um in dieser Begegnung zur Fülle des Lebens zu finden. So bleiben auch unsere Fragen weiter gültig: 
Wer bist du, Mensch? Wie wirst du Mensch? Wie kannst du werden, was du bist?
Wir gehen auf Pfingsten zu. Es gibt diesen wunderbaren Hymnus, der uns mit seinen Bildern auf unserem Weg zur Menschwerdung vielleicht begleiten kann. Es ist die Bitte um den heiligen Geist. Ich lade Sie ein, zum Abschluss ihn im Wechsel miteinander als unsere Bitte und als unser Bekenntnis zur Hoffnung, die Gott uns schenkt, zu beten. GL 770.

Komm herab o heilger Geist … Amen.