Liebe Frau Dr. Zimmermann, lieber Herr Dr. Faigle, lieber Pater Roers, lieber Alexander – sehr geehrte Damen und Herren,
Liebe Leiko,
Vier gesichtslose Figuren, geformt von einer Japanerin in 6 gleich großen, leeren Nischen – in einem „Dom“, der mehr einer italienischen Opern-Inszenierung als der zentralen protestantischen Kirche des Deutschen Reiches gleicht, die zudem die einzige protestantische Kirche ist, die obgleich erst Jahrhunderte nach der Reformation gebaut – diesen eigentlich katholischen Titel trägt.
Ein bisschen scheint es wie ein Rätsel, dessen Auflösung unwahrscheinlich ist.
Schon was der Architekt Julius Raschdorff für eine Vorstellung mit der Funktion der 6 Nischzen verband ist unklar. Jedenfalls waren es keine Nischen, die, weil die Flächen nun einmal zwischen Bögen und Emporen – Geländern übrig waren, nur als dreidimensionaler, architektonischer Schmuck gebaut wurden, sondern sie waren offenbar mit vollplastische ausgebildeten, geschmückten Sockeln und schmalen Baldachinen von Anfang an gerüstet große Skulpturen aufzunehmen.
Mir scheint, dass nichts im christlichen Kontext sich wirklich mit der Zahl 6 beschäftigt. Es ist die Verdoppelung der magischen 3, der Dreifaltigkeit, es ist die Halbierung der 12 Apostel, der Magdeburger Dom zeigt zwar 6 der 10 klugen und törichten Jungfrauen, überall sonst sind es aber 2 mal 5 junge Frauen, die gut und schlecht vorbereitet den Bräutigam, den Heiland erwarten.
Richtig, Gott erschuf die Welt in 6 Tagen, aber wurde in der liturgischen Architektur jemals den einzelnen Tagen ein Denkmal gesetzt? Ist es nicht der 7. Tag, der Sonntag, der Gott geweihte Tag, den wir feiern?
Im Buddhismus allerdings wird die Welt häufig in 6 Daseinsbereiche eingeteilt. Bildliche Darstellungen findet man am häufigsten im Lebensrad des Tibetischen Buddhismus: es sind
Der Bereich der Götter,
der Bereich der eifersüchtigen Götter,
der Bereich der Menschen,
der Bereich der Tiere,
der Bereich der hungrigen Geister,
und der Bereich der Hölle.
Auch wenn die Asien-Begeisterung, das Interesse am Buddhismus vor der Wende vom 19. Zum 20. Jahrhundert einen deutlichen Höhepunkt erreichte, möchte man nicht glauben, dass dieses Gedankengut hier einfloss.
Aber selbst wenn wir uns gleich der japanischen Künstlerin Leiko Ikemura zuwenden und den 4 Frauengestalten, die sie in 3 der 3 Nischenpaare (wobei wir doch bei der Trinität wären) gesetzt hat, bleibt die Frage, weshalb der Architekt diese 6 Nischen geplant hat. Es könnte sein, dass der Architekt den Freimaurern zugeneigt war und deren Zahlensymbolik einschleuste: Die Zahl 6 steht dort für den Menschen, die 2 für die Frau, die 3 für den Mann, beide wurden von Gott am sechsten Tage der Schöpfung geschaffen. Es ist die Zahl der Unvollkommenheit und Unvollständigkeit, deren Vervollständigung durch die Addition der 1 zur Zahl der Vollständigkeit – der 7 – führt.
Wenn wir uns nun vorstellen, dass der Altar, den die 3 Gruppen der jeweils 3 leeren Nischen umgeben, diese Vervollkommnung ist, hätten wir vielleicht einen Hinweis auf den Sinn dieser zunächst unverständlich scheinenden leeren Nischen gefunden. Mann und Frau würden – ohne abgebildet zu werden – das Zentrum des Protestantischen Glaubens, den für uns gekreuzigten und gestorbenen Christus umgeben.
Nun aber hat in einer Art Experiment Leiko Ikemura in nur 4 dieser Nischen Figuren gesetzt und 2 leer gelassen. Es würde zu kurz greifen zu denken, dass dies ökonomische Gründe gehabt haben könnte.
Das Leben von Frau Ikemura ist in sich bereits ein Experiment, das gut als Basis für das, was wir hier sehen, geeignet ist.
Leiko Ikemura ist im Nachkrieg in Tsu in der Präfektur Mie, ca. vier Stunden südwestlich von Tokyo am Meer in der Nähe des großen Shinto-Schreins in Ise, dem inmitten von bewaldeten Bergen gelegenen Zentrum des pantheistischen Shintoismus, der alle zwanzig Jahre abgerissen und identisch wieder aufgebaut wird, geboren. Sehr früh nimmt sie nicht nur die Kultur und Religion ihrer Heimat auf, sondern sucht in ähnlicher Intensität die Erfahrung der christlichen Kirche, der europäischen Literatur. Sie studiert Foreign Studies und Spanisch, träumt von Russland und Kuba und landet in Spanien, wo sie sich 1973 in Sevilla an der Kunstakademie immatrikuliert.
Eine Entscheidung für ein Kunststudium im Spanien Francos, das damals sicher nicht im Mainstream der internationalen Kunstentwicklung lag, wo die wichtigen Entwicklungen in New York oder Düsseldorf stattfanden, war außergewöhnlich. Sie führte aber zu einer intensiven, grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der katholisch geprägten Kunst Spaniens auch in Form der Kultur der großen Umzüge in der Karwoche, der sich geißelnden Büßer – der Flagellanten – und den Reminiszenzen der islamisch maurischen Kultur.
Reisen rund um das Mittelmeer, Aufenthalte in der calvinistischen Schweiz und dem katholisch protestantischen Nürnberg schlossen sich an, das katholisch geprägte Köln wird zur Heimat und nun lebt sie im nüchternen, säkularen, wenn überhaupt von Glauben geprägten: protestantischen Berlin.
Was für ein Hintergrund, um sich dieser Aufgabe hier zu stellen!
Mit vier zierlichen, weiß-grauen Figuren hat sie die Sockel besetzt. Zunächst erscheinen alle gleich, bei genauem Hinsehen merken wir: Drei Figuren haben einen rötlichen Grundton, der Farbe des Blutes, der körperlichen und seelischen Verletzung, eine ist von transzendentem Weiß, was der Künstlerin Kreislauf und Neubeginn bedeutet. Zwei Nischen bleiben leer.
Hohe, schlanke, in leicht fallende Gewänder gehüllte Frauen, deren Weiblichkeit dennoch wohl zu sehen ist, stehen in eindrucksvoller Höhe über uns, so als hätte man sie in einer raschen Bewegung gestoppt, als würden sie auf einen plötzlichen Ruf hören. Alle halten den linken Arm hinter sich, der rechte leicht angewinkelt an der Hüfte oder auch nach hinten verschränkt. Man sieht die Bewegung der Körper, Details von Füßen und Beinen oder Händen aber bleiben unter den Schleiern verborgen.
Auch der Kopf, die Haare scheinen von einem Schleier bedeckt, wie bei den Frauen in den Glasfenstern hinter dem Altar, die Assoziation trägt uns zu Geistern, aber nein: dem widerspricht das dramatische dunkle Oval, das dröhnende Dunkel der Öffnung, die wir anstelle der Gesichter sehen und das uns anzieht.
Klein und zierlich, gesichtslos und verletzlich stehen sie gegenüber den Monumentalfiguren der vier Religionsgründer, ein bisschen wie David gegenüber Goliath.
Sie lassen ganz aktuell auch an die vielen verhüllten Frauen denken, die aus Islamischen Ländern hierherkommen, eingehüllt in Tücher und Mäntel, zurück genommen in ihrer Individualität, ihrer Geschlechtlichkeit, oft in der Begegnung den Blick senkend.
Sie tragen unsere Gedanken zu den Frauen, die sich als Bräute Christi in christliche Orden zurück gezogen haben, das Habit annahmen, das in strengem Weiß das Gesicht eng umschloss und nur Augen, Mund und Nase sichtbar ließ, wenn auch umschattet von den Flügeln der Haube. Das Gesicht trat als dunkler Ort zurück in eine vom umrahmenden Weiß überstrahlte Fläche. Ihre Haare, ihre Hände, Füße, ihre Figur wurden entpersönlicht. Ihr eigener Name, ihr eigenes Schicksal spielte keine Rolle mehr.
Sie verpflichteten sich zur Keuschheit, zum Gebet, zum Gehorsam, sie kasteiten und geißelten sich, opferten sich auf im Dienst am Nächsten in der Hoffnung auf Erleuchtung, die mystische Erfahrung Gottes in sich auf zu nehmen und größtmögliche Nähe zu Ihm und seinem Sohn Jesus Christus zu finden, Gefäße des Glaubens.
Weit zurück geht in der Jüdisch, Christlichen Tradition die Geschichte der Unio Mystica, die hier zu diskutieren mir mangels Wissen nicht ansteht.
Leiko Ikemura hat schon seit langem Mädchen-Figuren aus Ton geformt, geschaffen, die wie Gefäße sind. In allen Varianten ziehen sie sich seit vielen Jahren durch ihr Werk: wir sahen liegende Mädchen, deren Haare wie Kronen die Öffnung umgeben, Röcke, die zu Bechern werden. Es gibt Mädchen ohne Kopf und Hals, deren Körper sich selbstverständlich öffnen, wem und was überlässt die Künstlerin unseren Gedanken. Junge Gefäße, die ihr Schicksal aufnehmen werden, manchmal aber auch am Kopf und am Rocksaum geöffnet sind, so die Funktion des Gefäßes nicht erfüllend.
Immer aber waren es in der Vergangenheit Mädchen in der ganzen Ungewissheit des Geschöpfes zwischen Kindheit und Erwachsen-Sein.
Diese Figuren hier sind anders.
erstmals scheinen es erwachsene Frauen zu sein, die uns die Künstlerin gegenüber stellt.
Wir wissen, dass Frauen in der Geschichte Jesu eine besondere Rolle spielten, sehen sie in den Fenstern über dem Altar. Anna, Elisabeth, Maria, seine Mutter, alle ihrem geweissagten Geschick folgend, andere wie Maria von Magdala, angezogen vom Charisma Jesus. Sie umgaben ihn und blieben bei ihm, nachdem die Jünger auf Golgatha ihn aus Angst verlassen hatten. Sie halfen ihn zu bestatten und kamen am dritten Tag – am Ostersonntag zu seinem Grab um ihn zu salben, wurden so die ersten Zeugen seiner Auferstehung.
Wir hören von ihnen ihrer Funktion halber, Großmutter, Tante, Mutter Jüngerin, von letzterer sogar in einer Sonderrolle, der einer Frau, die seine Offenbarungen empfangen haben soll.
Wir haben aber keine Ahnung davon, wer sie waren, weshalb sie taten was sie taten, von ihrem Leiden oder Glück. Wir kennen ihr Gesicht nicht. Unsere Vorstellung von ihnen gleicht dem was wir hier sehen, wir denken an Frauen-Gefäße, ihr Gesicht verschwindet im Dunkel.
Wir könnten aber auch an die Prophetinnen des alten und neuen Testamentes erinnert sein, Frauen wie Sarah, Miriam, Deborah, oder Hannah, die, wie ihre männlichen Kollegen gefüllt von Gottes Wort – dieses an ihr Volk weiter gaben.
Auch an die vielen Märtyrerinnen denken wir, nicht an die berühmten, die uns durch das Kirchenjahr begleiten, sondern an die unzähligen anonym gebliebenen, die durch den Schmerz des Körpers und den Schrei ihrer Seele sich einer übergeordneten Größe – in unserer Sprache Gott – nahe fühlten, Hülle gewordene Gefäße nicht nur für Gottes Größe, sondern auch gegen die angemaßte Autorität der patriarchalen Staatsmacht, wie sie sich auch in diesem Bau ausdrückt. Gegen eine Autorität in der das Gesicht, die Individualität der einzelnen Personen keine Rolle mehr spielt. Ausschwitz als grässlichste Manifestation eines solchen Systems.
So stehen diese vier Figuren in ihrer ganzen Kraft, ihrer räumlichen Präsenz, erfüllt durch alle unsere Gedanken, dem Altar gegenüber an dem wir den Gottesdienst feiern, des Todes und der Auferstehung Christi gedenken, gesichtslose Gefäße, Gefäße weiblichen Geschickes.
In ihrer Gesichtslosigkeit sind diese Frauen auch in keiner speziellen Religion beheimatet, sondern sprechen überkonfessionell für alle leidenden und Erlösung suchenden Frauen auf dieser Welt.
Und um noch einmal zu den Zahlen zurück zu kehren:
In ihrer Vier-Zahl stehen diese Frauen-Hüllen für das Kreuz mit seinen vier Enden und das, was das Kreuz bedeutet, für Tod und Leid.
Und das tun sie in ihrer bildnerischen Strenge nicht nur in der christlichen Welt, sondern auch dort, wo Leiko Ikemura herkommt, in Japan und China, wo „Vier“ shi ausgesprochen wird, was gleichbedeutend ist mit Tod.
Hoffen wir, dass Licht in die Dunkelheit dieser verlorenen Gesichter fällt, auf die Auferstehung und das Leben – auch wenn uns diese Hoffnung manchmal sehr schwer fällt.
– Mayen Beckmann, Kunsthistorikerin und Kuratorin in Berlin