Judoka 2016: Eröffnung der Ausstellung „Sein. Antlitz. Körper“
Predigt über Hebräer 5, 7-9 von Dompredigerin Dr. Petra Zimmermann
Gnade sei mit euch und Frieden
von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen
Der Predigttext, der für diesen Sonntag vorgesehen ist, steht im Brief an die Hebräer im 5. Kapitel
Christus hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte;
und er ist auch erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt.
So hat er, obwohl er Gottes Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. Und als er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber des ewigen Heils geworden.
Liebe Gemeinde,
Bitten und Flehen, lautes Schreien und Tränen – Ausdruck des menschlichen Schmerzes. Wenn das Leben zur Qual wird, wenn der Tod näher rückt und die Angst vor Vernichtung jedes Zusammenreißen, jede ironische Distanz unmöglich macht, sind wir nackt. Nackte Angst, sagen wir. Der Körper verschafft sich Ausdruck im Schreien. In Tränen.
Wer jemals am Bett eines Sterbenden gesessen hat, der mit dem Tode ringt, wird ahnen, was gemeint ist. Wenn kein gnädiges Sedativum die Angst nimmt und der nackte Mensch auf seinem letzten Weg ist, wenn kein Trost ihn erreicht und keine Hand mehr Linderung verschaffen kann, was bleibt da noch? Bitten und Flehen – welche Ohren sollen das vernehmen? Ist da noch jemand, von dem man sich Rettung verspricht? Gibt es Rettung?
Ich spreche davon in einer Zeit, in der uns das menschliche Leid auf die Pelle rückt. Der Autor Navid Kermani erzählt davon in seinen gerade veröffentlichten Reportagen von den Fluchtrouten in der Türkei, Giechenland und auf dem Balkan. Jeder einzelne der syrischen Flüchtlinge habe, so schreibt er, „eine Geschichte zu erzählen, die an Dramatik, an Leid und Gewalt kein westeuropäisches Leben mehr bereithält, Faßbomben, die auf ihre Städte niedergingen, Gekreuzigte, die tagelang zur Schau gestellt wurden, Folter wegen eines kritischen Theaterstücks. Es herrscht Krieg an den südlichen und östlichen Grenzen unseres Wohlstandsghettos, und jeder einzelne Flüchtling ist dessen Bote. Sie sind der Einbruch der Wirklichkeit in unser Bewußtsein.“ Der Einbruch des Leidens, der Schmerzen in unser Bewußtsein, so wir bereit sind, hinzuschauen.
Ich spreche davon hier, im Berliner Dom. Ein Raum, der von keinem Schmerz zu wissen scheint. Ein Raum, dessen triumphale Geste die menschliche Schwäche zu tilgen versucht, und wo noch der gekreuzigte Christus als muskelbepackter Heros nichts vom Bitten und Flehen des gequälten Menschen zu zeigen vermag. Ich weiß, viele von uns lieben diesen Raum. Ich auch. Und ich möchte ihre Gefühle nicht verletzen. Wir beten in ihm, wir singen in ihm. Musik erfüllt ihn, aber auch unsere Klagen und unser Dank. Das macht diesen Raum so anziehend, dass wir in ihm zusammen kommen und uns vor Gott stellen. Ohne unser Gebet aber wäre dieser Raum ein musealer Ort, Zeuge einer vergangenen Zeit. Historisch aufgeladen, interessant zu erkunden, aber er ist auch ein Ort, in dem der Schmerz nicht vorkommt, nicht die Angst und nicht die Tränen. Unsichtbar wurde gemacht, was Menschen zu erdulden haben.
Und nun ist „Der Schrei“ bei uns eingezogen. Ein Kunstwerk, das die Künstlerin Leiko Ikemura eigens für den Berliner Dom erschaffen hat. Vier weibliche Gestalten, asymetrisch in die zuvor leeren Nischen, unterhalb der Emporen – Balustraden gestellt. Waren Ihnen diese leeren Nischen eigentlich zuvor schon einmal aufgefallen? Mir nicht. Es waren Leerstellen ohne Aufmerksamketswert. Vermutlich einmal gedacht, um weitere Figuren dort aufzustellen, was zum Glück dem Geldmangel zum Opfer fiel. Nun stehen sie da, vier Frauengestalten in dieser bislang geschlossenen Männergesellschaft der Fürsten und Reformatoren, Evangelisten und Apostel. Terrakottafiguren mit einer rauhen weißen Glasur. In bodenlangen Gewändern. Wo man die Gesichter vermutet, gähnt ein langgezogenes schwarzes Loch. Wie ein weit aufgerissener Mund. Die Arbeit trägt den Titel „der Schrei“, eine Referenz an das gleichnamige expressionistische Gemälde Edvard Munchs.
Auf den ersten Blick scheinen sie gleich gestaltet, die Figuren, doch bei genaueren Hinsehen hat jede von ihnen eine Besonderheit. Die erste Figur an der Wand der Südempore reißt beide Hände an den Kopf, als sähe sie etwas Schreckliches geschehen, als sähe sie etwas, was ein Mensch nicht ertragen kann. Der nächsten Skulptur an der Kaiserloge fehlt ein Arm. Einschnitte laufen über die Brust wie Wunden. Ist sie Opfer der Gewalt geworden, hat eine Bombe ihr den Arm weggerisen? Der dritten Figur stützt die Hand noch den Kopf, doch der Arm darunter fehlt. Er wächst ihr an der Seite des anderen Arms wieder heraus, was der Figur etwas leicht Verdrehtes gibt. Auf ihrer Brust sind Löcher, wie von Schüssen oder Stichen. Die in der Reihenfolge meiner Betrachtung letzte Figur, scheint wieder vollständig zu sein. Eine Hand ist hinter dem Rücken verborgen, die andere, vor den Körper geführt, hält einen kleinen Vogel – zart, zerbrechlich, vielleicht eine Taube? Doch unversehrt ist auch diese Figur nicht. Das Gewand ist wie aufgerissen, die schützende Hülle zerstört. Leiko Ikemuras Figuren mit ihren rauen, unvollständigen Oberflächen, mit Ihrer Verletzheit treffen auf die glatten, polierten Oberflächen unseres Kirchraums, ihre Asymetrie auf seine symmetrische Konstruktion. Sie machen damit etwas sichtbar, was bislang verborgen war. Die Versehrtheit, die Verzweiflung, den Schmerz.
Neben dieser Kanzel, links unter mir an der Wand hängt eine Tafel. Darauf sind Namen eingelassen, dicht an dicht. Willy Bünger und Richard Dörband, Hans Hildebrandt, Richard und Otto Metzkow. Die im Ersten Weltkrieg getöteten Mitglieder der Domgemeinde, als Soldaten gefallen, deshalb sollte ihnen eine besondere Ehrung zuteil werden. Ludwig und Hermann, Georg und Kurt, Gustav und Paul. Nichts lesen wir von Luise und Mathilde, von Grete und Martha und Johanna. Namenlos, unsichbar bleiben sie, die auch in diesem Grauen ihr Leben ließen. Die Frauen, deren Tod keiner ehrenhaften Erwähnung Wert war. Sie, die auch heute in den zerstörten Städten Syriens in den Ruinen hocken, die im Meer ertrinken, deren Körper der männlichen Gewalt zum Opfer fallen, die uns aus den Bildschirmen entgegenschaun, erschöpft von den langen Wegen, die an den Grenzen kauern, ihre Gesichter leer vor Erschöpfung, sichtbar sollen sie werden! Ihr Schrei verbindet sich mit dem Schrei des Einen, der in den Tagen seines irdischen Lebens Gott um Erbarmen anflehte.
Musik: Dieter Schnebel, Lamento die Guerra II
Gibt es Erbarmen? Die Musik Dieter Schnebels, wie ich sie höre, lässt es am Ende offen. Aber sie schließt das Erbarmen keineswegs aus. Sie schließt die Hoffnung nicht aus. Sie hält daran fest, dass da jemand ist, der den Schrei hört. Dass er nicht einfach verhallt in der eisigen Unendlichkeit eines Universums. Dass da ein Gegenüber ist, das nicht gleichgültig bleibt.
Christus hat gelitten, hat geschrien und zu Gott gefleht, und, so heißt es, er wurde erhört. Erhören setzt Hören voraus. Wahrnehmen. Sich erreichen lassen. Sich anrühren lassen. Gott lässt sich anrühren. Der Ewige, der Erhabene, der Verborgene lässt sich finden von diesem Schrei. Der Unsichtbare, der Heilige, der thront über allen Engeln, verborgen hinter dem Vorhang seines Heiligtums, lässt sich finden.
Der Hebräerbrief, dem die Bibelverse entnommen sind, spielt dabei mit den Bildern des Sichtbaren und Unsichtbaren. Er bildet seine religiösen Vorstellungen anhand des Tempelkultes in Jeruasalem. Der Tempel, so das Konzept, ist in zwei Bereiche getrennt. In das Heiligtum, das allen zugänglich ist und in das Allerheiligste, in das nur einmal im Jahr der Hohepriester hineingeht. Für alle anderen ist der Zutritt verboten. Ein Vorhang trennt die beiden Bezirke. Hinter dem Vorhang, so die Vorstellung – ist Gott. Nicht sichtbar, aber gegenwärtig. Nicht festzulegen auf diese oder jene Gestalt. Eher eine Leerstelle, eine weiße Leinwand, ein erfülltes Nichts. Ein innerster Raum. Nur vom Hohenpriester zu betreten, um ein Opfer zu bringen.
Christus, so die Deutung des Hebräerbriefs, reißt den Vorhang, der uns vom Allerheiligsten trennt, entzwei. Durch seine Passion, seine Hingabe aus Leidenschaft für die Menschen, führt er uns in die Gegenwart Gottes. Uns, die gewöhnlichen Menschen, die mittelmäßigen, die Menschen voller Widersprüche und Alltäglichkeit, uns, mit unserer Sehnsucht und unseren Gebrechen. Uns, die wir tastend nach dem Grund des Lebens suchen. Die wir versuchen, mit Bildern und Worten, Klängen und Formen dem Unsichtbaren einen Ausdruck zu verleihen.
Liebe Gemeinde, mit dem Schrei haben wir begonnen, enden möchte ich mit einer kleinen Skulptur des israelischen Künstlers Micha Ullmann. Hier unter der Kanzel ist sie in den Boden eingelassen. Eine dunkelgraue Gesteinsplatte aus Basalt-Lava. Darin eine Vertiefung, in Form von zwei Häusern. Es sind Häuser, wie Kinder sie malen. Zwei Quadrate, darauf zwei spitz zulaufende Dächer. Die Häuser liegen einander gegenüber, Dachspitze an Dachspitze, ihre Firste berühren sich, und es scheint, als entstünde durch diese Berührung eine kleine offene Stelle zwischen den Häusern. Die in den Stein eingedrückte Form wird mit ein wenig Wasser befüllt. Und dieses Wasser verbindet beide Häuser, ein kleines Fließen entsteht. Hin und Hin. Eine leichte Bewegung. Ein Austausch. Seconda Casa, nennt Micha Ullmann diese Skulpur. Zweites Haus. Der Name weist auf den zweiten Tempel in Jerusalem, der heilige Ort, von dem sich der Autor des Hebräerbriefes zu seinem Werk inspirieren ließ und der im Jahre 70 n. Christus zerstört wurde.
Nun ist die kleine Skulptur in den Boden des Berliner Doms eingelassen. „Schaut“ gleichsam in Richtung jener Tafel, auf der die Namen der gefallenen Soldaten stehen, die von dieser Kanzel vom damaligen Domprediger Bruno Döring mit schaurigem Pathos in den Krieg geschickt wurden, „schaut“ gleichsam weiter auf der Achse seiner Ausrichtung, dorthin, wo an der Ecke Spandauer Str. / Karl-Liebknecht-Straße einst das Haus des großen jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn stand. Sichtbar werden die Bezüge, die unsere Geschichte prägen, sichtbar aber wird auch die Hoffnung, dass im kleinen Fließen, in der leisen Berührung eine neue Verbindung entstehen kann, ein Leben, das sich dem Schmerz stellt, aber doch nicht ohne Hoffnung ist.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Foto Dompredigerin Petra Zimmermann: © Gerald von Foris