Das Sichtbare und das Unsichtbare
im Berliner Dom am 13. März 2016
Liebe Gläubige,
liebe Nicht-Glaubende,
liebe Künstlerinnen,
liebe Künstler,
liebe Suchende,
liebe Schwestern und Brüder!
Schwester und Bruder, Kunst und Religion, sind das nun wirklich Geschwister? Ungleiche zwar, aber doch? Und wer ist der Bruder und wer ist die Schwester? Oder sind es Bruder und Bruder, und Kain erschlägt Abel, und aus dem Abtragen der Schuld entsteht Kunst?
Entsteht Kultur, zumindest ist im 1. Buch Mose, 4 21 der Ur-ur-ur-Enkel von Kain, der Flötenspieler Jubal als erster Künstler benannt. Jubal von dem herkommen alle Zither und Flötenspieler, heißt es da.
Und Fragen werfen sich auf: sind die Museen die neuen Kathedralen, neue Kirchen, Gehäuse, in denen die Kunst gefeiert wird, und haben die Künstler Deutungshoheit über mein Leben? Erklären sie uns die Welt?
Und da nennt Johannes Rauchenberger sein dreibändiges Kompendium zur Religion in der Kunst des beginnenden 21. Jahrhunderts ‚Gott hat kein Museum‘ und stellt damit die Frage, ob Gott ein Museum braucht.
Braucht Gott Museen und hat Religiöse Kunst heute Relevanz? Oder einfach so:
‚Die großen braunen Augen schauen dich an, als hätte der viel kleinere Mund anfangs noch wie der Mystiker Halladsch gerufen: Rettet mich, Leute, rettet mich vor Gott. Das hat sie auch, Hilfe gerufen, anfangs, als sie es erfuhr, ich bin mir sicher Frohe Botschaft! röhrten die Könige und brachten Geschenke, aber ich bin mir sicher, dass sie alles war, nur nicht froh. Sie trug es, ertrug es, wie die Heiligen es tragen, das macht sie schließlich dazu, nicht die Auszeichnung, sondern sie aushalten zu können. Zur Staatsfeindin geworden über Nacht, floh sie, übernachtete in Scheunen, in Kellern und zur Not in der Wildnis, die vor zweitausend Jahren noch eine war, immer das Kind bei sich, immer die Sorge, die nicht dadurch größer oder kleiner wurde, ob es ein oder der Sohn Gottes war. Die Sorge war es jeder Mutter. Später stand sie daneben, als man ihn ins Gesicht schlug, mit der Peitsche durch die spuckende Menge trieb, sah die Dornen, die sich zentimetertief in seine Stirn bohrten, sah ihn das Kreuz tragen, auf das man ihn mit Nägeln befestigte, sah das Kreuz aufgerichtet werden und die Leute johlen, sah den Sohn dort oben Stunde um Stunde bluten, stöhnen, dürsten, vor Schmerz und Verzweiflung schreien. Vielleicht blickte er nicht nur in den Himmel und fragte, warum Gott ihn verlassen habe. Bestimmt blickte der Sohn aus der Höhe, in der ihn die Menschen ausstellten, auch nach unten zu seiner Mutter. Zeigt das Bild sie davor oder danach?‘
Welches Bild frage ich? Und ungläubiges Staunen: Gemeinsam haben wir soeben ein Bild gesehen, das wir nicht sehen können, weil es nicht hier im Dom ist: die Maria Advocata aus dem Kloster Santa Maria del Rosario in Rom. Ungläubiges Staunen. Nicht nur das Bild ist sichtbar geworden, sichtbar vor unserm inneren Auge, sondern eine Gottesbeziehung und, unsichtbar durch Fäden zusammengebunden, eine Situation zwischen einem Sohn und seiner Mutter, eine Situation zwischen Gott und uns. Ungläubiges Staunen, so der Titel eines sehr schönen Textes des deutsch-iranischen Orientalisten Navid Kermani, Träger des Preises des Deutschen Buchhandels und verheiratet mit der Professorin Katajun Amirpur, der stellvertretenden Vorsitzenden der Akademie der Weltreligionen.
Und nun? Heute stellen wir hier im Berliner Dom Kunst von sechs Künstlerinnen und Künstlern aus. Säkulare Kunst die uns in ein Staunen versetzt, die uns hilft die Bilder hinter den Bildern zu sehen, deren Transzendenz das Unsichtbare sichtbar macht. Ich glaube nicht, dass Gott ein Museum braucht und auch nicht, dass unsere Museen unsere neuen Kathedralen sind, allerdings glaube ich, dass uns die Kunst den Weg zu einer höheren Macht öffnen kann, uns aber nur das Gebet, die Meditation, die spirituelle Übung dort hinführt.
Ungläubiges Staunen. Liebe Leiko Ikemura, Deine Skulpturen, gemacht aus Erde und Deinen Händen, die Teile Deines Körpers sind, erinnern uns nicht nur an das Wesen, und an die Liebe der Frauen, sie lassen uns auch auf die Löcher blicken, auf die leerstehenden Nischen, die sie nun füllen, nicht aber vollständig, weil dies nicht in ihrer und Deiner Zuständigkeit liegt.
Liebe Anastasia Khoroshilova, ungläubiges Staunen auch, als wir am Freitag Dein kleines ikonenhaft gerahmtes Foto Die Übrigen, getragen von einem kleinen Gebetsschemel, auf dem prächtig-goldenen Marmor- Altar der Tauf- und Traukirche aufstellten. Dein Bild zeigt die verwundete und vernarbte Brust eines russischen Soldaten, eine Narbe, die an Christi Seitenwunde erinnert. Vermutlich tut sie das nicht in dem schönen von Dir gemeinsam mit Annabel von Gemmingen und Anne Mayer herausgegebenen Buch Die Übrigen. Dort hatte und hat das Foto einen anderen Kontext, wie auch Leiko Ikemuras Skulpturen in ihrer neuen Umgebung neue Kontexte beschreiben. der ihren mutmaßlichen Vorbildern, Skulpturen von Märtyrerinnen und Heiligen Frauen in den, den Dom umgebenden Museen genommen ist.
Dort, im Bode Museum, finden wir die Heilige Barbara, gegeißelt, verstümmelt und als Christin von ihrem Vater enthauptet, finden wir auch die Katharina, auch sie gemartert und geköpft als schöne, als edle, als Andacht heischende, als ästhetisch glatte, 1480 geschaffene Skulptur.
Es mag ja sein, dass Luther, dass Calvin, dass Zwingli, dass die Herren, die hier im Dom über Deinen Frauen stehen, liebe Leiko, dass diese die heute über 500 Jahre alte Museumskunst nicht mehr in den Kirchen wollten, aber mussten wir deshalb die Bilder der Heiligen Frauen insgesamt abschaffen?
Liebe Anastasia, ja wir finden auf dem Altargemälde von Karl Joseph Begas dem Älteren, aus dem alten, vom Kaiser gesprengten Schinkelschen Dom in die Tauf- und Traukirche verbracht, keinen Christus mehr. Genauer, keinen Christus mehr, der seine verwundete Brust, seinen Schmerz zeigte. Und natürlich finden wir mit dem Kruzifixus aus Pisa und dem von Antonio Bonvicino 1425 geschaffenen großen Gekreuzigten im Bodemuseum großartige Bildhauerei. Aber haben die Museen der Kunst nicht ihre Spiritualität genommen? Ist sie religiöse Kunst dort im Museum nur noch schön?
Doch Deine kleine Arbeit versetzt uns in ungläubiges Staunen, auch weil sie die Umgebung, die Farbe und Struktur des sie nun umgebenden Marmors sehr genau aufnimmt. Und damit eine neue Beziehung schafft. Und Staunen auch, weil sie wahr ist. Und weil sie uns einen Menschen zeigt. Einen Menschen und Kunst, die uns hilft, uns zu erinnern und uns wahrzunehmen.
Deiner Arbeit gegenüber finden sich drei großformatige Schwarz-Weißfotos des Hongkonger Künstlers Young Hay entstanden 1998 in Berlin und Peking. Young Hay gibt dieser Arbeit den Titel Bonjour, Young Hay. Performance after Courbet und folgt hier dem Bild ‚Bonjour Monsieur Courbet‘, das 1894 entstand. Auf diesem Bild sehen wir den Künstler in einer weiten Landschaft, er kommt vom Meer und begegnet seinem Auftraggeber und Mäzen. Auf dem Rücken trägt er ein Bündel, seine Staffelei, eine gerollte Leinwand, Pinsel, Malzeug. Auch Young Hay trägt eine Leinwand auf dem Rücken. Seine Leinwand ist jedoch aufgespannt, quadratisch, weiß, das umgekehrte schwarze Quadrat eines Kasimir Malewitsch. So wie Malewitsch das Schwarz als Summe aller Farben in seinem Quadrat fokussiert, versammelt Young Hay seine Umgebung, die Summe aller Eindrücke in seinem weißen Quadrat. Er stellt sich vor den Bauzaun des Palastes der Republik, Wikipedia vermerkt hierzu: Eröffnung 23. April 1976, Datum der Zerstörung 6. Februar 2006. Vor 40 Jahren eröffnet also, vor 10 geschlossen und zerstört, heute wächst dort das alte neue Berliner Schloss, das Humboldt Forum, eine Replik, wir könnten auch sagen, eine Fälschung, der, liebe Anastasia, die Wahrheit fehlt.
Eine Kopie auch die Pietà von Käthe Kollwitz in der Neuen Wache. Eigentlich die Arbeit einer trauernden Mutter, deren Sohn Peter schon 1914 in den ersten Monaten des mörderischen Krieges fiel. Ein Ereignis, das Kollwitz, die Tochter eines freikirchlichen Predigers, zur Pazifistin und später zur Sozialistin werden ließ.
Die auf Young Hays Foto zu sehende Skulptur Mutter mit dem toten Sohn gab es nur als Miniatur, als Miniment, wie Micha Ullman sagen würde. Dieses Miniment stand auf dem Schreibtisch des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl und wurde zur großen Pietà aufgeblasen, aufgeblasen gegen den Widerstand der Kollwitzschen Familie. Im Hintergrund das Bild Young Hays vom Tiananmen, dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Ein merkwürdiger Frieden, der da vom Himmel kam, 1989, im Jahr der friedlichen Revolution in der DDR hagelte es dort in China, Kugeln aus Gewehren und Panzern. Zehntausende Studenten starben und tränkten den Platz mit ihrem Blut.
Zu den Überlebenden gehören auch Künstler. Künstler deren Werke in das Humboldtforum einziehen werden, wie Xu Bings ‚Landscripts‘, Chenguangwu’s ‚Treffen‘ oder Ai Weiweis Teehaus.
Einige hundert Meter von Dom und Humboldt-Forum entfernt, finden wir zwei Dornauszieher. In der Antikensammlung des Pergamonmuseums eine römische Kopie, die 150 A.D. entstand, geformt nach einem Typus 220 bis 200 Jahre vor Christus.
Im 12. Jahrhundert nach ihm eignete sich die katholische Kirche ihn an, zog sich bis dahin der antike Dornauszieher ganz einfach einen Stachel aus dem Fuß, galt er seit dem Mittelalter als Symbol der Erbsünde, einem Unheilszustand, herbeigeführt durch den Sündenfall Adams und Evas, unseren alten großen Geschwistern.
Der 1926 gestorbene Bildhauer Gustav Eberlein führt das christliche Motiv in die säkulare Kunst zurück. Sein Dornauszieher findet sich im Treppenhaus der Alten Nationalgalerie, auch sie nur einen Steinwurf vom Dom entfernt. Seit heute liegt Gregor Gaidas Dornauszieher, ein 2013 entstandenes Werk in der Tauf- und Traukirche. Gaida kopiert Eberleins Skulptur, der Körper des Knaben wird zum Torso, er verliert ein Bein und den linken Unterarm, der Kopf aufgerissen, die Dornen vergrößern sich und wachsen aus dem Körper, ja, er scheint auf den Dornen zu sitzen, die Schmerzen werden zu Prothesen, die den skulpturalen Körper halten. Die Öffnung im Kopf, die Öffnung eines Stachels, sie sind von innen verspiegelt. Ein noch dunkler Spiegel, in dem wir uns, in dem wir die Liebe erkennen können, vielleicht…
Moses Mendelssohn, der große jüdische Philosoph der Aufklärung lebte nur wenige Meter von hier, an der Ecke Unter den Linden/Spandauer Straße. 1643 schrieb Moses Mendelssohn: Jeder Begriff einer geistigen Schönheit ist ein Blick in das Wesen der Gottheit. Mendelssohn wohnte nur einen Steinwurf von hier, sein Wohnhaus stand vor der Marienkirche, an der Ecke Spandauer Straße.
Der große israelische Bildhauer Micha Ullman schuf ein ebenso bescheidenes wie monumentales Werk zur Erinnerung an Mendelssohn. Er spiegelte die Fassade des Hauses ins Pflaster des heutigen Platzes. Bei Regen und Nässe glänzen die in den Boden eingelassenen Flächen aus dunklem Stein, die vielleicht auch als ein Hinweis auf die Fenster zu lesen sind, durch die Familie Mendelssohn Licht bekam.
Unter der Kanzel des Doms findet sich nun, eingelassen in den Boden des Doms ein Miniment des Künstlers, das in Richtung des Hauses von Moses Mendelssohn zeigt. In eine Platte aus Basalt prägt sich ein Vertiefung, zwei Häuser, deren Firste konträr zueinander stehen. Zwei Häuser, zwei Meinungen, zwei Haltungen. Vielleicht auch zwei Religionen, zwei Auffassungen, zwei Ideologien. Juden und Christen. Christen und Muslime. Frieden und Gewalt. Glaubende und Atheisten. Bruder und Bruder, Schwester und Schwester im Streit. Ullmann bringt am First seiner Häuser eine kleine Öffnung an. Wasser füllt die Vertiefungen aus und verbindet die Häuser. Glänzend und dunkel. Unter einer Kanzel auf der seit mehr als einem Jahrhundert gepredigt wird. Domprediger Döhring schickte von dort 1914 mit Hurra junge Männer in den Krieg. Am 30. Januar 1933 wurde hier zu Görings Hochzeit gepredigt.
Heute, mehr als 80 Jahre danach, ist es schon gute Tradition am Israel-Sonntag Rabbiner auf diese Kanzel einzuladen. Prediger aus einem anderen Haus, über der Casa Seconda , mit der auch hier Unsichtbares sichtbar wird.
Lieber Peter Riek, über Deine Arbeit sprechen wir ein nächstes Mal sehr viel genauer und dies hat einen Grund: Ein kleiner Hinweis findet sich im Leuchtkasten an der Eingangstür der Tauf- und Traukirche. Eine Zeichnung mit Kreide, die Du auf den Boden der kleinen Kirche St. Thomas von Aquin Kirche gesetzt hast. Dort eröffnen wir heute Abend die zweite Ausstellung unserer Reihe SEIN.ANTLITZ.KÖRPER. und dort zeigst Du eine Zeichnung vom Boden des Berliner Doms. Du hast in allen Kirchen Gebilde auf die Böden gezeichnet, die Du Zellen nennst.
Neun Kirchen in Berlin und in Jerusalem wie auch die Berliner Neue Synagoge werden sich an SEIN.ANTLITZ.KÖRPER. beteiligen. In der Synagoge und auf den Böden aller Kirchen hast Du Deine Kreidelinien angebracht. Linien die uns, die Kunst und Religion verbinden, auch in dem Wortsinne, dass Religio Rückbindung meint. Am Ende, im späten Herbst, werden alle Deine Zeichnungen in der Parochialkirche ausgestellt.
Das künstlerische Summa Summarum quasi, und dann sprechen wir über Dein für Berlin geschaffenes Werk und über das noch Unsichtbare, das bis dahin sichtbar werden wird.
Unsichtbares, das heute im Berliner Dom sichtbar wird. Ein Dom als religiöser Ort, eingebettet in die säkulare Landschaft namhafter Museen. Ein Dom als kultureller Ort, der der Spiritualität zeitgenössischer Künstler aus aller Welt Raum gibt und so Religio, die Rückanbindung neuer Kunst in die eigene Wurzel initiiert. Ein Dom, in der alten und neuen Mitte Berlins, der seiner Verantwortung in Zeitgenossenschaft gerecht wird.
Ein Berliner Dom, der die Reformation in EINER Welt fortreibt. In der Kunst, der Musik und im Gebet.