Gregor Gaida, geboren 1975 im polnischen Industriegebiet Chorzów bei Katowice, verwendet für seine Skulpturen sehr unterschiedliche, auch oft unterschiedlich wertige Materialien. Seine Arbeit Der Dornauszieher bezieht sich auf Gustav Eberleins gleichnamige Skulptur von 1886, zu finden in unmittelbarer Nachbarschaft des Berliner Doms: Im Treppenhaus der Alten Nationalgalerie. Der Künstler Gregor Gaida transformiert den betulich anmutenden Jüngling Eberleins in eine raumgreifende, allansichtige, verstörende Skulptur. Der Corpus ist sehr nah am Vorbild, auch die Farbigkeit des weißen Marmors hat Gaida übernommen. Doch sein Dornauszieher ist auf den Torso reduziert und an drei Stellen aufgebrochen. Hohlräume klaffen auf, herbeigeführt durch riesige Stacheln, die nicht in den Körper hinein, sondern aus ihm herausführen. Sie durchbohren das Knie, den Rücken und deformieren selbst das Gesicht. Anders als sein Vorbild sitzt Gaidas Dornauszieher nicht auf einer Amphore: Er fällt nach hinten. Die Dornen stützen ihn.
Das Motiv des Dornausziehers ist aus der Antike überliefert, wie beispielsweise durch den berühmten ‚Spinario‘ in Rom. Ab dem 11. Jahrhundert eignet es sich das Christentum an und deutet es um. Der Dorn steht für die Erbsünde, die nach christlichem Glauben den Menschen seit der Vertreibung Adam und Evas aus dem Paradies anhaftet. Er galt das ganze Mittelalter hindurch als Strafe für diejenigen, die den tugendhaften Pfad verlassen haben (Hiob 30, 4ff.).
Bei Gaidas Dornauzieher wirkt der unbekleidete helle Körper – ein Symbol von Reinheit und Unschuld – porös und zerbrechlich. Dem gegenüber stehen die spitzen hölzernen Stachel. Der Blick in sie hinein wirft das eigene Spiegelbild zurück. Der Betrachter erkennt sich selbst in dieser Skulptur. Gaidas Skulpturen sind in ihrer Deutung nicht festgelegt und lassen weitreichende Assoziationen frei. Vom Spiel entgegengesetzter Kräfte im Yin-Yang- Prinzip über Luzifer, den gefallenen Engel, bis hin zum Märtyrer Sebastian, der durch Pfeile getötet werden sollte und gespickt mit diesen Eingang in die Bildtradition gefunden hat, bietet Der Dornauszieher ein großes Repertoire an persönlichen Anknüpfungspunkten.
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