Predigt von Pfarrer Christoph Sigrist, Grossmünster Zürich, anlässlich unserer Eröffnung der Installation von Helen Escobedo ‚Die Flüchtlinge – Los Refugiados‘.
11. Sonntag nach Trinitatis, 7. August 2016, 10.00 Uhr Predigt über Epheser 2, 4-10, Berliner Dom
„Gott aber, der reich ist an Erbarmen, hat uns in seiner großen Liebe, die er uns entgegenbrachte, mit Christus zusammen lebendig gemacht, obwohl wir tot waren in unseren Verfehlungen – durch Gnade seid ihr gerettet.“
Liebe Gemeinde,
wenn die liebe Welt erbarmungslos aus den Fugen zu fallen droht, und die Sehnsucht nach Erbarmen und Liebe schmerzt, fragt sich wohl manche bange Seele: Wo wird Gott erfahren, der Tod in Leben wandelt. Ich will es Ihnen sagen: Er wird in diesen Wochen am Mittelmeer erfahren, an jenem Ort, wo alltäglicher Tod und feriengetränkte Lebendigkeit aufeinander prallen. Ob in Nizza oder in Sizilien, Touristen baden im selben Wasser, das nur in diesem Jahr für 3127 Flüchtlinge zum Grab wurde.1 Wo wird Gott erfahren? Ja, ich halte für wahr, genau da, wo Tod und Leben ineinander verschlungen sind, gerade da erfahren Menschen, die tot waren, Gott.
Diese für meine Auslegung des heutigen Predigttextes grundlegende Einsicht nährt sich aus meiner Arbeit mit jungen Erwachsenen. Seit Jahrzehnten ist es Tradition am Großmünster, dass die Freizeit der Konfirmanden in Sizilien an der Küste in der Nähe von Siracus und Scicli stattfindet. Wir sitzen auf dem Boden in den Gassen von Scicli. 6 junge Männer sind es, die mitten unter uns etwas verloren im Kreis versuchen, die Hemmschwellen von Kulturen und Sprachbarrieren zu überwinden. Sie sind auf dem Boot über Lampedusa im Hafen von Pozzallo in Sizilien gelandet und in die casa delle culture gekommen. Die evangelische Gemeinde der Methodisten betreut mit Freiwilligen zusammen die insgesamt 40 Flüchtlinge in einem nationalen Projekt der Waldenser Kirche.
Da sitzt auch Wisthom, ein 16 jähriger Junge, geflohen aus Nigeria, 9 Monate auf der Flucht, mit der Hoffnung in seiner Seele, Lebenssinn und Lebensperspektive bei uns in Europa zu finden. Mit gesenktem Blick erzählt er:
„Ich steige ins Boot, zusammen mit vielen, zu vielen. Wir stoßen ins Wasser. Es ist Nacht. Wir schauen in den Himmel. Ich habe Angst, Angst, zu sterben. Die Sterne sind nicht weit, sie kommen immer näher. Ich sterbe. Ich senke den Blick, sehe ins Schwarz des Wassers, unendliche Tiefe. Blick hinauf, Blick hinunter. Hopeless, ohne Hoffnung. Da, mitten im Meer, nur ein Schrei: Wo bist Du, Gott! Da glaubte ich im Moment nicht mehr. Ich hielt mich für tot, suchte nach Schuld und Fehler.“ Wisthom stockt, er zerrt an einem Faden, der aus seinem gebleichten Pullover immer grösser wird. Er rollt ihn um seinen Finger. „ Und doch“, ein Ruck geht durch seinen Körper, er sitzt nun kerzengerade vor uns, schaut mich direkt an: „Ja, Gott ist es, der mich rettete. Er hat mich gerettet! Nur er. Ich bin überzeugt, er macht die 50 anderen Männer, die wegen dem hohen Wellengang über Bord gingen, auch wieder lebendig. I hope so and I believe that.“ Ein Konfirmand fragt in das große Schweigen: „Wie viele waren im Boot?“ „100“. „Und wie alt bist Du?“ „17 Jahre.“ Wisthom reißt den Faden vom Pullover und gibt ihn dem zutiefst betroffenen Jugendlichen.
Liebe Gemeinde, aus dem Stoff von hopeless wird der Faden von hope aufgedröselt und um den Finger der Seele gewickelt, sodass dieser Finger voller Hoffnung in die bange Seele zu schreiben beginnt das, was Gott vorgedacht hat und wir Menschen nachzudenken haben. Das ist der Stoff, aus dem Geschichten wie die vom Propheten Nathan mit dem König David gewoben sind, oder die so großartige Szene wie die vom Zöllner Zachäus und Jesus.
Das ist jedoch auch Stoff, aus dem der Epheserbrief gewoben ist. Ach, wir gescheiten Exegeten und Theologen, Männer wie Frauen, streiten uns über die Umstände: Ist es die Repression der sogenannten Judenchristen gegenüber den christlichen Heiden, oder die Verfolgungssituation unter Domitian in Kleinasien? Wir streiten uns über den Verfasser: Ist es Paulus selber oder ein unbekannter Autor? Wir wollen jedoch die Absicht des Briefes klar erkannt haben: Es geht um die innere Einheit der Gemeinde und um die Verpflichtung, christlich zu leben im Unterschied zur unchristlichen Umwelt. In Christus, so der rote Faden des Briefes, wird das Geheimnis offenbar, dass Gott trotz dem Gottlosen in der Welt alles zusammenhält: Er, Christus, ist der Ort, an dem alles seinen Sinn bekommt, weil hier alles so mit Gott verbunden wird, dass das, was einst tot war, lebendig wird.
Wisthom hat diesen Ort gefunden. Wie glücklich wären wir, wenn auch wir einen solchen Ort in unserem Leben fänden.
Viele suchen diesen Ort im Kirchenraum wie auch in der Kunst. Der Berliner Dom verbindet in diesem Jahr dieses ästhetische Erleben von Kunst und Kirche in einem Ausstellungskontinuums. Nach diesem Gottesdienst wird die Installation von Helen Escobedo eröffnet: „Die Flüchtlinge – Los Refugiados“. Die international bekannte mexikanische Künstlerin nimmt das Thema der Flucht in ihrem Oeuvre seit 2001 auf, das an politischer wie kirchlicher Aktualität in diesen Monaten noch dazugewonnen hat.
Der Begleittext hält zu den lebensgroßen, menschlichen Figuren aus Holz, Textilien und Draht fest: „Menschliche Figuren, zusammengebunden aus Stoffresten, ziehen in einer langen Kolonne ihres Wegs. Die Fetzen am Leib zeugen von Not. Ihre Körper und Köpfe sind gebeugt, auch voneinander nehmen sie keine Notiz. Trotz der bunten Farben ist die Atmosphäre düster und trist. Keine Gesichter, kein Wort, keine Bewegung. Nur die stille, mahnende Monumentalität der 61 Figuren. …Escobedos Figuren stehen für Millionen von echten Menschen, die fliehen müssen. Durch diese Ruhe bekommen die Betrachtenden die Möglichkeit, sich „greifbar“, nah, emotional und persönlich mit dem Thema auseinanderzusetzen.“ Eine Figur steht für Wisthom….
Der Epheserbrief nimmt diesen ästhetischen Faden auf, wenn er von der vielfarbigen, vielgestaltigen Weisheit Gottes spricht (3,10), und davon, dass man solche Schönheit nur mit dem Auge des Herzens sehen kann (1,18). Doch noch wichtiger als ästhetisches Erleben ist ihm die ethische Verpflichtung.
Und in der Tat finden viele in der ethischen Verpflichtung, den Menschen auf der Flucht zu helfen, den Sinn ihres Lebens, selbst dann, wenn sie nicht an Gott glauben. Unzählige Freiwillige in unseren Kirchgemeinden und Pfarreien in Berlin, in Zürich, in Sizilien und an unzähligen anderen Orten engagieren sich seit Monaten mit Räumen wie Pfarrhäusern und Kirchgemeindehäusern und umgenutzten Kirchen, mit Geld und Geist, dass Menschen auf Flucht Respekt, Hilfe und Zukunft entgegengebracht werden. Von der Welt, die aus den Fugen gerät, als „naiv“ verlacht, als Gutmensch abgestempelt, oder – wie es mir und unzähligen anderen ergeht, mit Beleidigungen und Todeswünschen bedroht. Für den Epheserbrief ist klar: Es gibt eine ethische Verpflichtung zur Mit-Menschlichkeit. Sie geschieht im Klangraum einer allumfassenden Liebe. Der Ursprung dieser Liebe ist Gott, die Kraft ist Erbarmen, das Ziel ist Lebendigkeit, die Wirkung ist – Rettung.
Durch diese Beziehung auf eine letzte Wirklichkeit wird das, was für andere nur die Rettung von Boat People ist, zum Hinweis auf Gottes Rettung. Die Begegnung mit dem geretteten Wisthom offenbart diese letzte Wirklichkeit, die Betrachtung der lebensgroßen Figuren Escobedo ist Gelegenheit, darüber nachzudenken. Und beides regt mich zu einem weiteren Gedanken der Predigt an.
Ist es wahr, dass wir aus Gnade gerettet sind, dann muss dieser im nächsten Jahr hier in Deutschland und der Schweiz auf manchen Kanzeln und Redner-Pulten zitierte reformatorische Satz der Rechtfertigung des Gottlosen allein aus Gnade auch für eine nicht theologische Sprache verstehbar sein. Wisthom, der Flüchtling aus Nigeria, hat mich darin gelehrt: „Ja, Gott ist es, der mich rettete. Er hat mich gerettet! Nur er. Ich bin überzeugt, er macht die 50 anderen Männer, die wegen dem hohen Wellengang über Bord gingen, auch wieder lebendig. I hope so and I believe that.“
Wisthom hat mich gelehrt, zu staunen, dass ich bin, staunen, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts. Und mit diesem Staunen berühre ich Gott, der aus dem Nichts schafft, und spüre in großer Betroffenheit, dass auch mein Handeln nicht sein kann, und doch ist: ich helfe, ich rette, ich lasse mich treffen von der Not, ich bin da. Mitten drin dort, wo die Welt aus den Fugen zu geraten droht, fügt sich eine andere Welt zusammen: es entsteht ein Raum voller Erbarmen, voller Versöhnung, voller Frieden, voller Liebe – voller Rettung. Wisthom hat den Sinn der Welt nicht erfunden. Er hat ihn gefunden. Und genau das hält der Epheserbrief in seiner kosmischen Theologie fest, wenn er lapidar festschreibt:
„Durch Gnade seid ihr gerettet“ – Dieser hochtheologische Satz, mit dem Faden des tief betroffenen Geretteten gewoben, wird zum Stoff, mit dem der Raum von Mitmenschlichkeit und Solidarität in Gott’s Name und in der Nachfolge Christi neben vielen anderen Stoffen von Religionen und Weltanschauungen ausgestattet ist. Dabei können wir drei Entdeckungen machen, die ich Ihnen zum Schluss aufgrund meiner Erfahrung mit den Flüchtlingen und Konfirmanden in Sizilien zeigen möchte.
Die erste Entdeckung zeigt sich in den Tränen auf der Straße. Nicht nur die 6 Männer waren es, die immer wieder ihren Redefluss durch Weinkrämpfe unterbrechen mussten. Manch ein Jugendlicher aus der Schweiz nahm verstohlen die Sonnenbrille hervor, um die geröteten Augen nicht zeigen zu müssen. Tränen sind Zeichen der Erschütterung. Und erschüttert bin ich dann, wenn es mich übermannt hat, wenn ich nichts mehr im Griff habe, mir der Boden unter den Füssen weggezogen wird. Ich werde meiner Verletzlichkeit und meiner Verletzbarkeit gewahr. Dann, mehr als sonst wann, öffnet sich meine Hand, und wohl auch mein Herz. Und jede Träne ist wie eine Frage, die auf eine Antwort wartet. Und einmal, I hope so and I believe that, wird Gott die Antwort sein.
Die zweite Entdeckung hängt mit den Handys zusammen, die die Jugendliche heutzutage begleiten wie früher bei uns Älteren … das Freundschaftsbuch? Nach dem Gespräch standen die Flüchtlinge und meine Konfirmanden zusammen, und dann wurden die Nummern ausgetauscht und ein unsichtbares Netz sichtbar und auch hörbar geknüpft. Eine Konfirmanden kam im Car freudestrahlend auf mich zu: „Jetzt müssen Sie hören: Vorher, beim Abschied, habe ich gerade noch mit der Mutter von ihm in Nigeria reden können. Ich verstand kein Wort, doch ich wusste genau, was sie sagte. Ist das nicht verrückt?“ Nach der bekannten Philosophin Hanna Arendt leben wir in einem Netzwerk von Lebenswelten, das weder durch eine Mauer noch durch Draht abgeschirmt oder getrennt werden kann. Freiheit ist immer nur als Freiheit in Bezogenheit erfahrbar.
Die dritte Entdeckung machte ich abends spät nach unserem Nachtritual. „Herr Sigrist, darf ich Sie kurz haben?“ Ich ging mit einem aufgeweckten Jungleiter auf die Seite. „Wissen Sie, die jungen Männer lassen mich nicht los. Ich bin ja gleich alt wie sie. Ich habe ein gutes Daheim, meine Eltern leben noch, auch wenn sie manchmal schwierig sind. Wissen Sie, auch wenn es nur ein Tropfen auf einen heißen Stein ist, man muss doch einfach helfen. Ich komme nach den Ferien auf Sie zu, ich möchte mich bei Ihrer Flüchtlingshilfe der Kirche engagieren. Und da, nehmen Sie das, ich kaufe dafür ein Bier weniger.“ Er drückte mir 10 Euro in die Hand. „Denn sein Gebilde sind wir, geschaffen in Jesus Christus zu einem Leben voller guter Taten, die Gott schon bereitgestellt hat.“ (1,10) – so schreibt es unser Brief.
Wir sind verletzlich, wir sind in einem Netz von Lebenswelten verknüpft, wir tun Gutes, dreifach gezwirnt ist der Faden, aus dem der Stoff unseres Lebens und unsere Glaubens gewoben ist. Mit diesem Stoff gestalten Künstlerinnen wie Helen Escobedo die lebensgroßen Figuren mit ihren Fetzen und Stoffresten, aus diesem Stoff sind all die Optimisten gewoben, die helfen und retten, auch wenn die Welt wegen Terror, Krieg und Gewalt aus den Fugen gerät.
Es war Dietrich Bonhoeffer, der für den Christen den Ausdruck des „unverbesserlichen Optimisten“ geprägt hat. „Es gibt gewiss auch einen dummen, feigen Optimismus, der verpönt werden muss.“, schreibt er. „Aber den Optimismus als Willen zur Zukunft soll niemand verächtlich machen, auch wenn er hundertmal irrt; er ist die Gesundheit des Lebens…. Es gibt Menschen, die es für unernst, Christen, die es für unfromm halten, auf eine bessere irdische Zukunft zu hoffen und sich auf sie vorzubereiten. Sie glauben an das Chaos, die Unordnung, die Katastrophe als den Sinn des gegenwärtigen Geschehens und entziehen sich in frommer Weltflucht der Verantwortung für das Weiterleben, für den neuen Aufbau, für die kommenden Geschlechter. Mag sein, dass der jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gerne die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht.“
I hope so and I believe that. Amen.
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