Predigt am 5. Fastensonntag 2016
von Pater Georg Maria Roers SJ
St. Thomas von Aquin

Erste Lesung: Jesaja 43,16-21
Psalm 23 (nach Huub Oosterhuis)
Evangelium: Johannes 8,1-11

Seht her, nun mache ich etwas Neues. Schon kommt es zum Vorschein, merkt ihr es nicht? (Jesaja 34,19) Diese Worte kommen so frisch daher, dass sie aus dem Alltag gegriffen sein könnten. Dabei ist es über 2700 Jahre her, als der Prophet Jesaja sie sprach, um das Volk Israel zu ermutigen. Denkt nicht mehr an das, was früher war; auf das, was vergangen ist, sollt ihr nicht achten. (Jesaja 43,18) Der Prophet führt dem Volk Israel vor Augen welch ein Wunder der Durchzug durch das Rote Meer und die gelungene Wanderung durch die Wüste war. Das ist gleichzeitig ein Plädoyer für die Gegenwart. Wir Menschen neigen dazu die Vergangenheit zu verherrlichen und dabei zu vergessen, dass wir im hier und heute leben.

So ist es auch mit der Kunst in den Kirchen. Wir bewundern die Werke der Gotik, der Renaissance und des Barock, dabei vergessen wir, wie sehr die Künstler unserer Zeit sich mit Themen befassen, die wir ganz leicht mit unserem christlichen Glauben verbinden können.

Der Künstler Richard Long, dessen Petrified Wood Circle wir links vor den Altar gelegt haben, ist berühmt für seine Wanderungen durch die Natur. Seine Arbeit Line made by Walking (1967) ist nichts anderes als ein Weg mitten auf einer Wiese mit Gänseblümchen.
Im Südwesten Londons lief er auf dieser Wiese so lange hin und her, bis der Boden einen Pfad bildete. Von dieser Aktion ist ein Foto überliefert. Schon mit 19 Jahren lässt Long einen Schneeball in seiner Heimatstadt Bristol einen Abhang runterrollen und fotografiert das Resultat. Dafür muss er das College of Art verlassen, weil er von seinem Rektor für verrückt erklärt wird. Dabei gilt Long mit dieser Aktion als einer der Begründer der Land Art. Er damit eine neue Kunstrichtung erfunden, also etwas Neues.

Auch Jesus tut im Evangelium etwas vollkommen Ungehöriges, etwas Verrücktes, etwas Neues. Er widersetzt sich den Pharisäern, die ihm eine Frau vorstellen, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie wollen wissen was Jesus davon hält. Aber Jesus bleibt lässig. Er schreibt mit dem Finger auf die Erde oder malt ein paar Zeichen in den Sand? Vielleicht ein Menetekel wie es beim Festmahl des Belšazar (Daniel 5 ,5) von unsichtbarer Hand auf die Wand geschrieben wurde? Werden die Pharisäer von Jesus nicht auch als zu leicht befunden? Tekel bedeutet nämlich im Hebräischen: Gewogen wurdest du auf der Waage und zu leicht befunden (Daniel 5,27). In der Bibel lesen wir: ‚Als die Pharisäher hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde.’ (Johannes 8,7) So lesen wir es in der Bibel. Am Ende steht Jeus mit der Frau allein da.

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Würden wir auch so cool bleiben? Offenbar ging von Jesus eine natürliche Autorität aus, die es den Pharisäern unmöglich machte zur Tagesordnung überzugehen. Auch heute werden auf unserem Planeten Frauen gesteinigt. Ein himmelschreiender Skandal. Wer stellt sich dagegen? Mit einer einfachen Frage bringt Jesus die Herrschenden in arge Verlegenheit.

Es ist ein wenig so wie in diesen Tagen mit dem chinesische Künstler Ai Weiwei. Er trifft Flüchtlinge im Lager Idomeni in Griechenland, um auf die Schließung der sogenannten Balkanroute aufmerksam zu machen: ‚Du kannst nicht glauben, dass das in Europa passiert!’ Von ihm hängt ein Bild in unserer Kirche, das den Künstler kurz vor einem Verhör in China zeigt. Er war viele Male an unbekannten Orten im Gefängnis, stand zweimal unter Hausarrest und durfte über Jahre China nicht verlassen. Das Bild von 2009 heißt Illuminations (Beleuchtung). Im Mai 2008 stürtzen bei einem Erdbeben in Sichuan Schulgebäude ein, bei dem Kinder ums Leben kamen. Ai Weiwei stellte zunächst nur Fragen: ‚Wie viele Schulkinder sind ums Leben gekommen? Wo sind sie gestorben? Wer waren diese Menschen?’ Die Regierung aber gab keine Antwort. Schließlich veröffentlichte der Künstler und seine Helfer mehr als 5000 Namen der toten Kinder im Internet, die aber bald wieder verschwanden. Die Zensur wollte keinen Skandal und bekam ihn genau deswegen. Auch bei den Flüchtlingen geht es um jedes einzelne Individuum. Hier in Berlin hat der Künstler durch eine Aktion vor dem Konzerthaus am Genarmenmarkt auf die Notlage aufmerksam gemacht. Die Säulen des Hauses wurden zu Rettungssäulen, indem sie von roten Rettungswesten bedeckt wurden, die er von der griechischen Insel Lesbos mitgebracht hatte. Und während wir heute die Ausstellung SEIN.ANTLITZ.KÖRPER. im Berliner Dom eröffnetet haben, berichtete Der Tagesspiegel online: ‚Der chinesische Künstler Ai Weiwei hat im Schlamm des griechischen Flüchtlingslagers Idomeni einen weißen Flügel aufstellen lassen, auf dem eine Syrerin ein Konzert gab. Helfer mussten eine Plane über das Instrument und die Pianistin halten, um beide vor dem strömenden Regen zu schützen.’ Diese Bilder gehen um die Welt, um festgefahrene Situationen zu aufzulösen.

 

Wer Steine wirft, egal in welcher Epoche und aus welchem Anlass, dessen Herz ist ganz offensichtlich versteinert. Die Wut sorgt dafür, dass im Herzen die Dinge nicht mehr im Fluss sind. Jesus zeichnet auf den Boden, um wieder Bewegung in die Situation zu bringen, in die ihn die Pharisäer gebracht hatten. Plötzlich ist die Situation geklärt. Als der Künstler Joseph Beuys auf der 6. Documenta 1977 in Kassel seine Honigpumpe installierte, hatte er ähnliches im Sinn. In den 1970er Jahren herrschten in Deutschland verfestigte politische Strukturen vor, die Beuys aufbrechen wollte. Er ließ 150 kg Honig durch viele Plastikschläuche fließen, um deutlich zu machen, dass das kristalline Prinzip flüssig gehalten werden muss: ‚Wer nicht denken will, fliegt raus!’ Diesen Satz schrieb Beuys auf eine gelbe Karteikarte nach einem anstrengenden Seminartag auf der 6. Documenta. Die Plastische Theorie, die der Künstler entwickelt hat, geht von einem ausgewogenen Zusammenspiel dreier kreativer Grundkräfte aus: Denken, Fühlen und Wollen. Es ist kräftezehrend diese drei Grundkräfte des menschlichen Lebens im Fluss zu halten. Vor allem das Denken komme dem plastischen Arbeiten sehr nahe, denn auch hier gehe es wie in der Bildhauerei darum, Ideenmaterial zu formen und quasi wie ein Architekt Gedankengebäude zu errichten, die jeder kritischen Diskussion standhalten. Der Mensch ist ein Wesen, das sich Dinge bewusst werden kann auch wenn es ein mühsamer Prozess ist.

Eine Künstlerin, ein Künstler hat ein soziales Verantwortungsbewusstsein, denn kreative Prozesse können sehr wohl politische Prozesse beeinflussen. In diesem Sinne ist auch die Arbeit Für Fußwaschung (1977) zu verstehen. Beuys erweitert den engen Begriff dessen was Theologie und Kunst ist oder sein kann. Er weitet das christliche Zeichen der Fußwaschung, die Jesus an seinen Jüngern vollzogen hat, auf die ganze Gesellschaft aus. Wer nicht gelernt hat anderen Menschen zu dienen, der hat nichts zum Aufbau einer Gesellschaft beizutragen.

Die Künstler Doris Schälling und Jörg Enderle haben sich vorgenommen, vom Stein her zu denken. In ihrer Arbeit in den Steinbrüchen nehmen sie ganze Schichten davon heraus, um sie ins Licht der Öffentlichkeit zu zerren. Die Arbeit Meno Mosso ist 1100 kg schwer und wurde 2009 als Petit Granit (18 x 326 x 72 cm) zum Kunstwerk. Mit diesem Stein kann man Niemanden steinigen. Gott sei Dank! Der Stein ist auf die linke Seite der James Turrell Kapelle auf den Dorotheenstädtischen Friedhof gelegt worden. Die Künstler sind davon überzeugt, dass Steine atmen, dass sie so vergänglich sind wie andere Materialien. Leider ist Polystyrol vermutlich haltbarer als Marmor, obwohl man es im ersten Moment nicht glauben mag. Die Künstler spielen mit den Materialien und kombinieren diese: Spanplatten, Gips und Schaumstoffe treffen auf Mainsandstein, Basaltlava und immer wieder Petit Granit. Der dunkelgraue Kalkstein zeugt von über 300 Millionen Jahren Geschichte. Seine silbrig-kristallinen Einsprengsel sind Spuren abgelagerter Fossilien.

Die Arbeiten führen fort, was Richard Long in seinem Petrified Wood Circle zu einem Kreis geformt hat. Erstmals wird die Arbeit in einer katholischen Kirche gezeigt. Sie vereint fossiles Zedern- und Redwoodholz zu einem großen, über drei Meter durchmessenden Kreis. Es sind vermutlich nicht die Zedern des Libanon, die es mittlerweile nicht mehr gibt. Dieses Holz ist so kostbar, dass damit die ersten jüdischen Tempel in Jerusalem gebaut wurden. Die Arbeiten aus Fossilien bzw. aus Stein nehmen ein Thema auf, das bereits seit den 1970er Jahren in Kirchenkreisen immer wieder aufkommt: die Bewahrung der göttlichen Schöpfung. Papst Franziskus, der am heutigen Tag genau drei Jahre im Amt ist, hat eine bedeutende Enzyklika zu diesem Thema verfasst. Bevor sich die Mächtigen der Welt in Paris zur Klimakonferenz im Herbst 2015 trafen, erschien die päpstliche Schrift: Laudato Si. Sie prangert die Umweltverschmutzung und den Klimawandel an, die unvorstellbare Verschmutzung der Erde und der Meere, die durch die Wegwerfunkultur traurige Realität geworden ist.

Im Gespräch mit dem Künstlerpaar Schälling und Enderle habe ich mir kurz vorgestellt, was es bedeuten würde, wenn die Fußballfelder großen Plastikberge der Arktis auf den Meeresboden sinken würden, um mit der Zeit eine der vielen Erdschichten zu werden? Das flüssige Öl hätte durch die industrielle Produktion eine Metamorphose erfahren, würde letztlich aber wieder dahin zurückkehren, von wo es kam. Die Künstler spielen mit Formen, Materialien und Maßen, vor allem dem Goldenen Schnitt. Die Proportionen atmen den Geist antiker Skulpturen, wo Philosophie, Theologie und Kunst noch eine Einheit bildeten. Die griechischen Marmorstatuen kommen so leicht daher, dass wir die späteren römischen Götterbilder nur noch für puren Brutalismus halten können. Die Philosophie der Antike wurde von der Jurisprudenz des Römischen Reiches abgelöst. Die mosaischen Gesetze, die in der Bibel eine wichtige Rolle spielen, sind der römischen Kultur wohl näher als man denkt. Athen bleibt die Wiege der Demokratie und des Theaters. Die menschlichen Proportionen und der Goldene Schnitt bleiben bis zu Le Corbusier und darüber hinaus die Grundmaße menschlichen Handelns in Ethik und Kunst, in Mathematik und Musik. Einer Legende nach wurde der Satz des Pythagoras von Samos einst in den Sand geschrieben.

Wer Muße hat, kann etwas Neues erschaffen. Das gilt u.a. für die Heilige Hildegard von Bingen. Die Äbtissin hat sich in ihrem Buch Physika (1150–1158) um die Heilsame Schöpfung und um die natürliche Wirkkraft der Dinge verdient gemacht. Sie hat u.a. mit Steinen viele Krankheiten kuriert. Die Einheit von Leib und Seele des Menschen stand im Mittelpunkt.
Nicht erst seit dem Mittelalter ist in der katholischen Tradition immer von der Leib-Seele-Einheit die Rede. Das ist die Motivation dafür, die Dialektik zwischen Materie und Geist zu überwinden. In der Reihe SEIN.ANTLITZ.KÖRPER. geht es uns darüberhinaus u.a. um das Motto ‚Die Reformation und die eine Welt’. Damit können sich alle Christen identifizieren. Warum hat Gott die Welt erschaffen? Weil es ihm ein Anliegen war aus Freude und aus dem Nichts etwas Neues zu schaffen. Es ist unser Auftrag die Erde in diesem Sinne zu erhalten.

Heute finden wir das Kreuz in unserer Kirche von der Künstlerin Diana Bobina verhüllt. In der christlichen Liturgie bereiten wir uns darauf vor, dass Christus für uns leiden wird. Seine Wunden, die ihm zugefügt wurden, sind uns ein Trost für die eigenen Wunden, die Teil unserer Biographie geworden sind. Wir Menschen können uns mit diesem Gott identifizieren, weil er nicht der ferne Gott ist, sondern derjenige, der uns Nahe sein will, der einer von uns geworden ist, der seinen Jüngern die Füße gewaschen hat.

In der frühen Geschichte der Christenheit finden wir Jesus dargestellt als den guten Hirten. ‚Du hast den Tisch schon gedeckt – meine Spötter wissen nicht, was sie sehen: dass du meine Füße wäschst, sie salbst mit Balsam, mir einschenkst, trink nur, sagst du.’ – Der Dichter Huub Oosterhuis hat den Psalm 23 behutsam nachgedichtet. Die Zeilen haben etwas Dionysisches. Ähnlich wie das Sonnenkreuz von Joseph Beuys. Jesus trägt keine Dornenkrone, sondern ist mit Weinlaub und Trauben gekrönt. Es ist der Gott, der uns einlädt zum Mal. ER will mit uns feiern, weil er das Leben jedes einzelnen von uns schätzt: ‚Nichts wird mir fehlen. Lass es so bleiben, dieses Glück, diese Gnade, all meine Lebenstage.’ Huub Oosterhuis hat den Psalm 23 so übertragen:

Du, mein Hirte? Nichts würde mir fehlen.

Führ mich zu blühenden Weiden,
lass mich lagern an strömendem Wasser,
dass meine Seele zu Atem kommt,
dass ich die rechten Pfade wieder gehen kann
dir nach.

Du, mein Hirte? Nichts soll mir fehlen.

Muss ich in den Abgrund, die Todesschlucht,
dann packt mich Angst – bist du bei mir,
werde ich nicht sterben vor Angst.

Du hast den Tisch schon gedeckt – meine Spötter
wissen nicht, was sie sehen:
dass du meine Füße wäschst, sie salbst mit Balsam,
mir einschenkst, trink nur, sagst du.

Nichts wird mir fehlen.

Lass es so bleiben, dieses Glück,
diese Gnade, all meine Lebenstage.

Dass ich bis ans Ende meiner Jahre
wohnen werde in deinem Haus.

Du, mein Hirte, nichts wird mir fehlen.
Die Vorstellungen, die wir von Gott haben, müssen wir immer wieder neu überdenken. Manchmal haben sich Bilder von ihm in unseren Köpfen festgesetzt, die sich besser auflösen sollten. Wer seinen Hass auf andere Menschen z.B. mit Gott begründet, befindet sich auf dem falschen Pfad – so wie jene Gestrigen, die heute eine extrem rechte Partei (AfD) in drei deutsche Landesparlamente gewählt haben. Wir dürfen als Christen die Hoffnung nicht aufgeben, dass der gute Hirte auch heute noch unterwegs ist nach denen, die abgekommen sind vom Weg der Wahrheit.

Nicht alle können – wie Orpheus – selbst Steine zum Weinen bringen. Es würde ja reichen, wenn sich so manches Herz erweichen ließe, keine Steine auf Menschen zu werfen. Verhärteten Zeitgenossen müssen wir wie Jesus die Frage stellen: ‚Wer von Euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein!’ So bekommt der Vers 8,7 aus dem Johannesevangelium plötzlich eine ganz politische Note.

Wir sind eingeladen die Bibel immer neu zu lesen und deuten!