1. Johannes 4, 16b – 21 | 1. Sonntag nach Trinitatis | 29. 5. 2016

Berliner Dom – Kanzeltausch der Berliner Citykirchen
Mit anschließender Eröffnung der Ausstellung „Zeig mir, woher Du kommst“ im Rahmen des Ausstellungsprojektes ‚Sein.Antlitz.Körper.‘

„Zeig mir, woher Du kommst! Ich möchte Dich kennenlernen.“ Wer so auf andere, frem-de Menschen zugeht, muss damit rechnen, abgewiesen zu werden. „Was geht es Dich an, woher ich komme?“ „Ich möchte Dich aber kennen lernen! Ich bin neugierig auf Dich, Du interessierst mich, Dein Weg, den Du hinter Dich gebracht hast, interessiert mich! ‚Zeig mir deine Wunde‘. (J. Beuys). Erzähl mir, was Du vorhast, wovon Du träumst, wovor Du Angst hast, wo willst Du hin?“

Nicht wahr, wir haben uns angewöhnt, solche Fragen eher nicht zu stellen, wenn sie uns denn überhaupt beschäftigen. Vorsicht Intimsphäre. Im Regelfall scheint es auch besser so, unsern Nächsten nicht so direkt zu kommen; wer weiß, ob wir stark genug wären, die Antworten auszuhalten – wenn wir denn überhaupt eine Antwort bekämen. Aber stellen Sie sich nur für einen Moment vor, Sie würden nicht wie sonst still neben ihrem fremden Nachbarn oder der fremden Nachbarin in der Kirchenbank Platz nehmen, Sie würden diesmal den Nachbarn in der Kirchenbank ansprechen, ihm freundlich in die Augen schau-en und fragen: „Woher kommst Du?“

Was würde geschehen? Wäre Befremden die Reaktion auf der Kirchenbank? Oder würde sich etwas öffnen? Würde die unvermittelte Frage als übergriffig verstanden werden oder womöglich als Einladung? Als Einladung sic h bekannt zu machen, sich füreinander zu öff-nen, die Tür einen Spalt weit aufzumachen, die Jalousien hochzuziehen; nicht mehr fremd nebeneinander in der Kirchenbank zu sitzen, sondern voneinander zu wissen? Einer, der diese Frage gestellt hat, sitzt hier unter uns. Der Berliner Maler Dieter Mammel hat sie Kindern gestellt, nachdem er bei einer Reise auf einer griechischen Insel unfreiwillig Zeuge von der Ankunft vieler geflüchteter Männer, Frauen und Kinder geworden war. Krieg, Hunger und Elend hatten diese Menschen unter lebensgefährlichen Umständen auf die Flucht aus ihren Heimatländern getrieben. Zurück in Berlin hat der Künstler geflüchtete Kinder aus Syrien und Afghanistan aufgesucht, die mit ihren Eltern in einer temporären Notunterkunft in Berlin-Zehlendorf Zuflucht gefunden haben; und hat die Kinder gefragt: „Zeig mir, woher du kommst!“

Und hat von sich erzählt; hat die Tür aufgemacht und den Kindern erzählt, woher er kommt, was ihm Freude macht und was ihm schwer fällt, hat ihnen seine Bilder gezeigt. Da haben die Kinder angefangen zu zeichnen und zu zeigen, woher sie kommen, worauf sie hoffen, und wovon sie träumen. Ihre Zeichnungen werden ab heute hier in diesem Hause gezeigt werden. Eine Einladung, mit den Augen der Kinder eine Welt zu entdecken; etwas von den Ängsten zu ahnen aber auch das große Potential der Hoffnung auf eine bessere Welt. Eine dieser Zeichnungen finden Sie in Ihrem Gottesdienstheft. ‚Traumwol-ke‘: An dieser Zeichnung haben mehrere Kinder mitgewirkt, Wir sehen im unteren Teil des großformatigen Bildes 26 Betten. Darüber die im Original rot umrandete Traumwolke.

Wir sehen zwei Apfelbäume mit roten Äpfeln, bewohnbare Häuser, arabische Schriftzei-chen, die wir uns entziffern lassen sollten, wir sehen Blumen und Vögel, zwei fröhlich win-kende Kinder, eine Mutter mit einem Baby im Bett und viele Herzen, lauter Symbole in-takten Lebens.
Haben wir eine Antwort auf diesen Traum der Kinder, deren Namenszug auf der Zeich-nung Hinweis ist auf sehr konkrete, individuelle Hoffnungen?

Es gibt Bibelworte, liebe Gemeinde, die sind wie Kinderzeichnungen, die wir nicht verges-sen; wie Filme, deren Szenen uns noch lange im Kopf herum gehen, wie Choräle aus der Matthäuspassion von J. S. Bach, die uns erschüttern können. Töne, Farben, Stimmen, Worte, die etwas an die Innenseite unseres Herzens tragen, das unserm Verstand zu den-ken gibt, in immer neuem Beginnen. Das Bibelwort unseres heutigen Predigt-textes ge-hört zu diesen goldenen Worten: „Gott ist Liebe“ heißt es da. Und um sogleich deutlich zu machen, dass es hier nicht um irgendeine allgemeingültige Definition geht, wird der Bo-gen weit aufgespannt und wir hören: “wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm: Darin ist die Liebe völlig bei uns, dass wir Zuversicht haben…“

Liebe Gemeinde, ein kühner, vielleicht der kühnste theologische Satz im Neuen Testa-ment! Diesen Satz Tag für Tag zu meditieren, wir hätten gut zu tun.
Gott ist die Summe, die Zuspitzung und die Fülle, auf ihn reimt sich alles, was dem Leben dient; dieser geheimnisvolle Satz ist für mich der cantus firmus, die heimliche Grundmelo-die, die sich hindurch zieht durch die oft so widersprüchlich scheinenden Tage und Nächte unseres Lebens; aber vor allem: sie klingt noch hindurch im Kontrapunkt, wo Dummheit und Wahn den Ton an-geben. Wo die Liebe ist, da ist Klarheit, da ist Gott.

Kann das wahr sein? Ist das nicht eine Überforderung für unsern nüchternen Verstand? Ist da nicht heftiger Widerspruch fällig? Als aufgeklärte Menschen wissen wir, dass die Kul-turschicht unseres Verhaltens dünn, äußerst dünn ist, darunter bestimmen andere Geset-ze das ‚wo’ und ‚wohin’. Müssen wir nicht mit der Kränkung leben, dass wir nur sehr be-grenzt Herr sind im eigenen Hause? Triebabfuhr und Adrenalinzufuhr allenthalben.

Liebet einander? Wie soll das gehen? Die Welt erweist sich als globaler Zirkuskäfig voller fauchender Tiger und reißender Wölfinnen; Prediger der Liebe werden da bestenfalls noch als Pausenclowns geduldet, und im Normalfall gelten sie als Narren. Der Apostel Paulus zum Beispiel, als wollte er unser Predigtwort aus dem 1. Johannesbrief kommen-tieren: „Wenn ich mit Menschen- und Engelszungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle. Und wüsste ich alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so dass ich Berge versetzen könnte, und hät-te die Liebe nicht, so wäre ich nichts.“
Ein hinreißend schöner Gedanke; aber wovon redet der Mann? Wenn wir uns schon mit-ten im Bedrohtsein unseres Daseins den Luxus der Liebe leisten, dann wollen wir wenigs-tens besitzen, was wir lieben. Wollen es haben mit aller Macht und aller Ge-walt, ja, nei-gen wir nicht oft dazu, trunken zu sein vor lauter Habenwollen. Und er, Paulus? Definiert die Liebe genau andersherum, 1. Korintherbrief 13, Vers 5: „Sie sucht nicht das Ihre.“ Das ist nun so verrückt, dass man darüber richtig ins Sinnieren kommen könnte.

Aber was ist, liebe Gemeinde, wenn an dieser, so verrückt erscheinenden Sichtweise nun doch etwas dran wäre, nur einmal angenommen – würde das nicht bedeuten, dass wir Menschen wenigstens vorübergehend imstande wären, nicht das Unsere und nicht einmal „unser gutes Recht“ zu suchen; imstande auch, etwas zu tun, oder zu denken, oder zu fühlen, ohne dafür, oder dabei, oder davon etwas haben zu wollen?

Schon daran ist zu sehen, dass die Sache, um die es in unserm Bibelwort geht, in Wirklich-keit weniger theoretisch ist, als sie sich anhört.
Leben wir in Wahrheit nicht alle von Hinwendungen, die nicht das Ihre suchen. Ist das unsere ‚Traumwolke‘? Tragen wir nicht alle unverdrossen, trotz mancher Enttäuschung in uns die Sehnsucht nach einem Gegenüber, das uns ansieht, uns ernst nimmt, uns das Zu-trauen zum Leben erneuert; Sehnsucht nach einem Gegenüber, wie es die guten Mütter und Väter ihren Kindern schenken: selbstloses Lieben, von der die Kinder zehren ein Le-ben lang noch bis ins hohe Alter? „Erzähl mir, woher du kommst und wovon du träumst!“

Wohin unser Leben verkommt, wenn die Liebe stirbt, wenn niemand mehr wissen will, woher wir kommen und wovon wir träumen, davon wissen die Einsam gewordenen viel und die Nachdenklichen, die unschuldig Beschuldigten auch – und im Grunde wir doch alle.
Der schwedische Dichter Lars Gustavson erzählt von einem Mann, von dem es schon im ersten Satz heißt, dass er wohl ein wenig seltsam ist. Es kann eine ganz frühe Angst gewe-sen sein, so wird angedeutet, die ihn seltsam gemacht hat, und weder seine Eltern noch seine Geschwister haben etwas dazu getan, dies zu ändern. Eher im Gegenteil. Ratlos schickt man ihn bald ins Heim, und dort verschließt er sich immer mehr in seine eigene kleine Fantasie-Welt, die ihn vielleicht etwas schützt vor der wirklichen Welt. Nur einem auch sehr schweigsamen Lehrer gelingt es für eine Weile, den Jungen aus seiner besonde-ren Welt ein wenig aufzuwecken. Dies gelingt dem Lehrer auf die einfachste Weise; er sieht dem Jungen immer in die Augen, wenn er mit ihm spricht. Damit zeigt er ihm, dass es ihn wirklich gibt.

Später verschließt sich der junge Mann immer mehr, arbeitet im Garten, weil er Bäume und Pilze liebt. Als älterer Mann sitzt er nur noch in der Sonne, weil die ihn wirklich wärmt.
Etwa in der Mitte der kurzen Erzählung ist der Junge im Winter in einen Bach gefallen. Triefnass und vor Kälte zitternd steht er dann am Ufer und hat große Angst vor der siche-ren Tracht Prügel zu-hause. In diesem Augenblick schenkt der Erzähler der Geschichte dem Jungen einen wunderbaren Satz; eine ganz tiefe, vielleicht die tiefste Empfindung eines Menschen überhaupt. Da steht dieser seltsame, ängstliche Junge, ihm tropft die Nase, er riecht nach faulem Wasser und ahnt das noch viel größere Unglück zuhause, und der Erzähler kniet gleichsam vor ihm nieder und schreibt: „… irgendwo war ihm jemand eine grenzenlose Liebe schuldig.“
Das sind so Sequenzen, wo einem plötzlich die ganze Welt auf dem Herzen zu liegen scheint und eine tiefe Traurigkeit nach einem greift. Warum muss dieser arme Kerl eine solche Angst haben! Irgendwo war ihm jemand eine grenzenlose Liebe schuldig geblieben.

Der Einwand liegt auf der Hand: Führt diese Sehnsucht nicht zu massiver gegenseitiger Überforderung? Wer kann schon so Lieben?
Immerhin: seit beinahe 2000 Jahren erzählt jeder Kirchenraum von dieser Liebe; zuerst im Symbol des guten Hirten und dann im Symbol des Kreuzes. In ihm erkennen Christen die selbstlose Liebe Gottes, der seinen eigenen Sohn dahin gab, damit wir Menschen einen Geschmack für die Unendlichkeit entwickeln, eine Vorstellung von der Liebe, die bleibt; dass wir Frieden finden und Zuversicht, das Leben und seinen Sinn begreifen lernen; und wenigstens ein trutziges furchtloses ‚Dennoch‘ zu stammeln vermögen, wo der Zweifel uns niederringen will: „Dennoch bleibe ich stets bei Dir, denn Du hältst mich bei Deiner rechten Hand und nimmst mich am Ende mit Ehren an…“ Wenn wir Christen uns darauf wieder ernstlich einließen, würde gelassenes Vertrauen, fröhliche Zuversicht und ein of-fenes Herz an die Stelle von Kleinmut und Ängstlichkeit treten, die hier und da ja durchaus noch anzutreffen sind. Man fragt sich, warum eigentlich.
Die Liebe Gottes ist die, die bleibt; die unser Erdenglück überdauert und den Tod, und den Schrecken, und das Grauen; die Liebe Gottes ist es, die all das Fragmentarische unseres Lebens einmal zusammenfügen wird ins Vollkommene.

Das ist mir das Wunder an dieser kleinen Erzählung von Lars Gustavson: Die große, aller-größte Empfindung für grenzenloses Lieben, und der kleine Fingerzeig, wie dieses Liebes beginnt. Mit einem freundlichen Blick, einem Winken oder einem Regen der Hände; mit einem Bemerken.
Unschätzbar wertvoll ist, was dieses Bemerken bewirkt: manch-mal öffnet sich ein ver-schatteter Raum, ein Kerker, in den sich ein Mensch geflüchtet hat, der sich ungeliebt, ungesehen empfindet. Kerker dieser Art öffnen sich nicht mit Gewalt, oder auf Befehl, oder mit viel gutem Zureden. Dunkle Räume der Seele, in die sich Menschen geflüchtet haben oder flüchten mussten, um sich vor den Schrecken des Ungeliebtseins, vor Krieg und Gewalt zu retten, öffnen sich wohl nur durch ein stilles achtsames Bemerken. Viel-leicht ist es die Wertschätzung für das Kleine, für die Bewegung des Grashalms. Und dem Bemerken folgt das Erkennen, das stille, leise Erkennen, ein neues Sprechen: „Du bist mir wertvoll. Du trägst ein menschliches Antlitz, du bist ein Geschenk des Himmels. Erzähl mir, woher du kommst, wovon du träumst.“
Amen.

– Pfr. Christhard-Georg Neubert, Direktor der Stiftung St. Matthäus, Kunstbeauftragter der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz