Der Blick der Tiere ist meist stumm, und ihr Leben und ihr Leiden vollziehen sich oft still und leise. Ihr Blick muss ohne Worte auskommen, und ihre Seufzer sind kaum hörbar und entziehen sich unserem Verstehen. Die von Alexander Ochs kuratierte Ausstellung TIERE SEHEN DICH AN wendet sich emphatisch diesem Blick der Tiere zu, und wer sich dafür Zeit nimmt, wird mit Einsichten beschenkt.
Vorne im linken Seitenschiff, unter der Vierung und unter der Kanzel der Zionskirche findet der Besucher die Hauptstücke: „Acedia“ und „Dame mit Kaninchen“ von Carina Linge und „Fische“ von Carl Emmanuel Wolff. Wer diese Stücke sehen will, passiert zuvor wie zur geistlichen Vorbereitung einen Durchgang zwischen zwei Ausstellungswänden im hinteren Teil der Kirche nahe des Eingangs. Und der Besucher tut gut daran, hier länger zu verweilen.
Arbeiten von Birgit Brenner, BEZA, Martin Eder, Tom Ellis, Jana Gunstheimer, Katrin Heichel, Julius Hofmann, Kai Klahre, Karin Kneffel, Justine Otto, Neo Rauch, Cornelia Schleime, Lothar Schliemann, Rigo Schmidt, Vroni Schwegler, Robert Seidel, Michael Triegel, Pieter Cornelisz Verbeeck sowie Miriam Vlaming sind mit ihren sorgsam gehängten Tierporträts (viele aus der Sammlung Thomas Rusche) eine eindrucksvolle Sehschule verschiedener Blickkonstellationen: schlafend oder lauschend, hungrig oder beutefixiert, gestrandet, erstorben oder hellwach, allein oder in der Gruppe, von der Seite oder vis-a-vis und im Spiel der Blicke mit den Menschen als Dompteur, Falkner usw.
Wer diese Arbeiten betrachtet, ist gerüstet für die Werke von Carina Linge und Carl Emmanuel Wolff, denn hier betritt der Besucher nun explizit eine Zone der auch religiös-metaphysischen Einsamkeit zwischen Mensch und Tier. Schmerz und Staunen im Blick der Tiere und die menschliche Gleichgültigkeit in ihrem merkwürdigen Ineinander von Kälte und Sehnsucht nach Berührung treffen hier in der Nähe von Altar und Kanzel aufeinander.
In dieser Zone empfiehlt es sich, mit der „Acedia“ von Carina Linge zu beginnen: ein weiblicher Rückenakt mit einer blicklosen Schnecke auf der Schulter. Statt Blickkontakt nur kalte-schleimige Hautberührung. Acedia wird meist mit „geistlicher Trägheit“ übersetzt, und sie meint jene Haltung von Gleichgültigkeit und Überdruss, Herzensträgheit und Schwermut, die den Menschen unberührbar und gefühllos macht und ihn in der Einsamkeit seiner Sehnsüchte verkapselt und einschließt. Die „Dame mit Kaninchen“ von Carina Linge und „Fische“ von Carl Emmanuel Wolff erinnern den christlichen Betrachter dann erschütternd an die Traurigkeit der Pietà, an das geschlachtete Opferlamm, an Petrus, den Fischer und an die Brotvermehrung. Dass der Fisch Symbol für den christlichen Glauben ist, geht dem Besucher womöglich durch den Kopf. Ein Fisch liegt getrennt vom Haufen der anderen Fische unter der Kanzel und sein stummer-trostloser Blick wirkt wie eine nicht hörbare Frage nach einem antwortenden Wort, zu dem der Fisch nicht fähig ist.
– Joachim Hake
Joachim Hake (Jg. 1963) ist Theologe und seit 2007 Direktor der Katholischen Akademie in Berlin.
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