Dompredigerin Petra Zimmermann am Ostersonntag 2016
Predigt über 1. Kor. 15, 1-11 und die Bilder des Hongkonger Künstlers Young Hay
„’Gestorben nach der Schrift…‘ – ‚begraben…‘,- ‚auferstanden nach der Schrift..‘ – ‚gesehen worden…‘ Wort für Wort, Silbe um Silbe liest der hohe Beamte vor, was auf dem Blatt steht, das man ihm gereicht hat. Dann wirft er es zu Boden. ‚Eine Katastrophe! Ist das erst einmal in der Welt, haben wir ausgespielt. Überall und zu jeder Zeit kann er uns von nun an in die Quere kommen. Die Ordnung bricht, auf der wir gründen. Und täglich größer wächst der Bruch…‘ Einer der Subalternen räuspert sich, wagt Widerspruch: ‚Exzellenz, das sind doch alles Fabeln, Hirngespinste nur, leicht zu zerstreuen. Morgen schon spricht keiner mehr von diesem Menschen aus Nazareth…‘ Ärgerlich fällt ihm der andere ins Wort: ‚Hast du nicht gehört? Sie haben ihn gesehen! Spricht sich das herum – und setzt sich das erst einmal in den Köpfen und den Herzen fest – , entfaltet es eine eigene Gewalt. Kein Bann mehr, den wir verhängen, wird ihn binden können. Keinem Gesetz mehr ist er untertan. Ein von den Toten auferstandener Messias! Wo ist das Grab, in das er sich noch sperren ließe? Wo das Gefängnis, das ihn hält?’“ Diese Szene, komponiert vom Theologen und Autor Karl-Heinrich Bieritz, trifft ins Zentrum. Sie haben ihn gesehen! Und diese Botschaft ist nicht mehr aus der Welt zu vertreiben. Der von den Toten auferstandene Messias lässt sich nicht mehr vergessen und nicht verbannen. Er wurde gesehen, er wurde bezeugt. Deshalb sind wir hier.
Liebe Gemeinde, wenn das alles so einfach wäre, könnte ich jetzt mein Amen sprechen. Es wäre eine kurze Osterpredigt geworden. Aber mit dem Sehen ist das so eine Sache. Nicht immer ist eindeutig, was wir sehen. Und wir Kinder der Mediengesellschaft haben einen durchaus zwiespältigen Blick auf das, was uns als Bild vor Augen gestellt wird. Wir wissen, Bilder werden gemacht. Bilder können täuschen. Und was wir sehen, erschließt nicht automatisch seinen Sinn.
Auch die Erzählungen vom Ostermorgen wissen davon. Sie sind durchaus verwirrend. Die Erscheinungen des Auferstandenen sind flüchtig. Und dass man ihn sofort erkannt habe, kann man wirklich nicht behaupten. Die Frauen verwechseln ihn mit dem Gärtner, die Jünger halten ihn für ein Gespenst, und der Jünger Thomas besteht hartnäckig auf Merkmalen, an denen er sich eindeutig identifizieren ließe.
Paulus räumt diesem „Sehen“ in seinen Zeilen des Korintherbriefs großes Gewicht ein. Kephas, also Petrus, haben ihn gesehen, die Jünger, fünfhundert Brüdern auf einmal, Jakobus, alle Apostel, zuletzt er selbst haben ihn gesehen. Die Frauen werden von Paulus nicht erwähnt. Aber Frauen konnten keine Zeugen sein. Vor Gericht nicht und deshalb auch hier nicht, wo es darum ging, Zeugenschaft abzulegen. Da war Paulus ganz ein Mensch seiner Zeit mit ihren patriarchalen Konventionen.
Aber um Zeugenschaft ging es ihm. Die Wahrheit der Auferstehung sollte bezeugt werden. Paulus führt hier offenbar eine Debatte, wie sie immer wieder in der Theologiegeschichte geführt wurde. Es geht um die Frage, ob Jesus wirklich auferstanden ist. Leiblich auferstanden, oder nicht doch nur „spirituell“, in einer Art „Astralleib“ oder so. Oder ob das nicht vielleicht überhaupt nur eine Idee war. Ersonnen von den enttäuschten Jüngern, die sich nicht abfinden konnten. Ausgeschmückt von der überhitzten Phantasie einiger untröstlicher Gefährten. Wirkmächtig zwar und von daher ernst zu nehmen, aber doch eben nur eine Idee. Von Anfang an, meldete sich der Zweifel, ob denn das alles sein könne. „Mit dem Stein vor dem leeren Grab verbindet sich alles Mögliche, aber jedenfalls keine felsenfeste Überzeugung.“ (Kathrin Oxen) Ist die Geschichte dennoch wahr?
In der Tauf- und Traukirche hängen drei Bilder. Photographien in schwarz -weiß. Unterschiedliche Orte sind darauf zu sehen, doch in allen dreien gibt es ein wiederkehrendes Motiv. Auf allen drei sehen wir den Künstler Young Hay, der eine weiße Leinwand trägt. Er steht auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking. Er steht vor der Neuen Wache in Berlin. Er steht vor dem Palast der Republik. Immer mit einer weißen Leinwand auf dem Rücken. Was hat die dort zu suchen, diese Leinwand? Soll auf ihr ein Bild entstehen? Welches Bild soll darauf gemalt werden? Dort, auf die Leinwand dem Platz mit dem himmlischen Namen, fast menschenleer, aber wir wissen, was dort geschah. Wissen, wie im Juni 1989 das chinesische Militär die friedlichen Proteste der Studenten niederschlug, man schätzt die Zahl der Toten auf zweieinhalbtausend. Dort, vor dem Palast der Republik, der zu der Zeit, als das Photo entstand, schon geschlossen und in Teilen abgetragen war. Und wo heute die Replik jenes Schlosses entsteht, das einst für den Palast der Republik gesprengt wurde. Was soll gemalt werden vor der Figur der Mutter mit dem toten Sohn in der Schinkelschen Neuen Wache. Die überdimensionierte Pieta, nachgebildet einer kleinen Skulptur von Käthe Kollwitz. Zum Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Wie echt kann ein Gedenken sein, wenn seine Darstellung eine Lüge ist? Was ruft die Leinwand für Bilder wach, die dort eigentlich gezeigt werden müssten?
Und was verbirgt diese Leinwand? Welcher Ausschnitt des Bildes wird durch sie unseren Blicken entzogen? Was ist dahinter? Unsichtbar gemacht, ausgeblendet? Young Hays leere Leinwand fragt nach der Wahrheit. Nach der Wahrheit unserer Erinnerungen und nach der Wahrheit der Kunst, indem sie andeutet, dass vielleicht etwas fehlt. Dass man hinter die Oberfläche blicken müsste. Hinter das, was augenscheinlich ist. Und neue Bilder schaffen und Geschichten erzählen von dem, was unbegreiflich ist und über unser Verständnis hinausgeht.
Paulus ist wichtig: der Auferstandene wurde gesehen! Von denen, die als glaubwürdige Zeugen gelten dürfen. Zuletzt auch von mir. Nur diese Worte. Zuletzt auch von mir. Mehr nicht dazu. Keine Bilder, Eindrücke, Gefühle. Keine Einzelheiten.
Andere haben weiter erzählt. So Lukas, der später die Erzähllücke, die leere Leinwand, mit einer Geschichte füllt: Paulus stürzt vor Damaskus vom Pferd, geblendet und betäubt von diesem Moment, in dem der Auferstandene ihn anspricht. Andere haben also weiter erzählt, wie das gewesen sein könnte, diese „Offenbarung des Auferstandenen“. Haben gemalt, in Mosaike gelegt, vertont und in Szene gesetzt. Haben Erzählungen darüber geschrieben, Romane, Gedichte. Offenbarung. Ein weiter Deutungsraum, geflutet von Bildern und Geschichten, die aus zweitausend Jahren Menschheitsgeschichte hier zusammenströmen. Wie das damals wirklich war? Wer weiß. Das Geheimnis bleibt groß und verweigert sich jedem gefälligen Gebrauch.
Was ist die Wirklichkeit der Auferstehung? In Damaskus vom Pferd zu fallen, geblendet und betäubt, ist eine Sache. Den Vorgang wahr zu nehmen, ihn sagbar zu machen, ihm Ort und Wort zu geben ist ein zweites. Vielleicht so: „ich war in keiner Weise darauf vorbreitet. So viel kann ich sagen. Es kam ganz unerwartet über mich, aus heiterem Himmel, buchstäblich. Wie ein Riss in der Zeit. Und es zerriss mir mein Leben. Ja, es riss mich an sich. Riss mich in sich hinein… Schaut mich an, ich bin nicht mehr ich selbst. Ich bin, wie soll ich’s sagen, seither außer mir. Ich lebe im Messias. Und er lebt in mir.“ (Berits)
Das Eigentliche ist unsagbar, hinterher kann man davon stammeln, und ringsum kann man versuchen, in den Spuren zu lesen. Doch dass es geschehen ist, daran lässt Paulus keinen Zweifel. Christus ist auferstanden. Der ganze Glauben der Christen hängt daran, dass dies wahr ist. Aber der Glaube ist etwas anderes als ein für- wahrhalten bestimmter Sätze. Er lässt sich nicht historisch dingfest machen. Er ist eher ein berührt-werden. Oder eine Erschütterung. Der Beginn eines neuen Vertrauens. Es ist das Vertrauen darin, dass Er da ist, der Christus. Dass er für mich da ist, wenn mein Leben schwer ist und ich nicht weiter weiß. Dass er für mich da ist, wenn die Traurigkeit wie eine dunkle Decke auf mir liegt und das Atmen schwer fällt. Dass er da ist in diesen Tagen, wo der Schrecken über die Gewalt sich ausbreitet und die Angst umgeht, es könnte jederzeit bei uns geschehen. Er ist da, wo die Menschen in Brüssel und Ankara und Aleppo um ihre Toten weinen.
Liebe Gemeinde, das ist unser Glauben. Es ist der Glaube daran, dass der Tod und die Gewalt und der Schrecken nicht das letzte sind, was es zu all dem zu sagen gibt. Es ist der Glaube daran, dass mit Ostern der Bann des Todes gebrochen ist. Und der Bann, mit dem die Angst uns belegen möchte. Fürchtet euch nicht. Christus ist auferstanden, hat der Engel den Frauen gesagt. Fürchtet euch nicht.
Mehr als diesen Glauben haben wir nicht. Beweise sind nicht zu erbringen. Vielleicht ist es noch nicht unsere Erfahrung. Aber doch schon unsere Hoffnung und unsere Sehnsucht. Die Sehnsucht danach, dass das Leiden ein Ende hat, dass die Gewalt nicht das letzte Wort haben wird und Versöhnung möglich ist. Es ist die Hoffnung auf ein Leben jenseits aller Drohungen und Gefahren, nach einem Leben jenseits der Todesangst. Die Hoffnung, dass nicht unsere Erfahrung von Sinn und Unsinn, Gelingen und Misslingen, Bewahrung und Verlorenheit über uns entscheiden, sondern längst über uns entschieden ist. Aus Gottes Gnade bin ich was ich bin.
Und diese Hoffnung wirkt sich aus. Sie verändert schon jetzt den Blick auf die Welt. Man sieht noch einmal ganz neu und erkennt: es gibt keine hoffnungslosen Fälle mehr. Jeder Mensch lohnt schon jetzt alle Bemühungen und jeden Einsatz. Jede Ungerechtigkeit, jeder Gewalttätigkeit lohnt und fordert schon jetzt unsere Gegenwehr und unseren Einspruch. Es gibt keine hoffnungslosen Fälle mehr. Noch in den Momenten der bittersten Tränen und der größten Schuld, noch in den Augenblicken, in denen das Leben aufs äußerste gefährdet ist, scheint am Horizont das erste Licht des beginnenden Ostermorgens. Es gibt keinen Raum und keine Zeit, die gottlos und verloren ist. Christus ist auferstanden. Der Tod hat sich die Zähne an ihm ausgebissen. Und so liegt er da, der zahnlose Knochenmann, dem Osterlachen preisgegeben.
Liebe Gemeinde, die Frauen am Grab, sie brauchten ihre Zeit, bis sie begriffen. Paulus brauchte seine Zeit. Blieb drei Tage blind und stumm. Aber dann begannen sie zu erzählen. Und diese Erzählungen sind nie wieder verstummt. Sie gingen um die Welt und durch die Zeiten. Sie erreichten uns. Unsere Ohren und unsere Herzen. Sie kommen aus der Vergangenheit aber sie verwandeln die Gegenwart und führen uns nach vorn, weit über den Tag hinaus. Amen.
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