Rede von Dr. Susanne Rockweiler vom 28.4.2017 im Kerber Verlag, Berlin aus Anlass der Veröffentlichung
Bilder- und Lesebuch Sein.Antlitz.Körper. Kirchen öffnen sich der Kunst.

Liebe Herausgeber Frau Triebe, Herr Roers und lieber Alexander Ochs,
liebe Katalog-Autorinnen und –Autoren, Künstlerinnen und Künstler,
sehr geehrte Damen und Herren,
 
ich freue mich die Laudatio zum Bilder- und Lesebuch Sein.Antlitz.Körper. Kirchen öffnen sich der Kunst. zu halten. 13 Ausstellungen sind in diesem Buch zusammengefasst und dokumentiert. Elf in Berlin, davon zehn in Kirchen, eine in einer Synagoge, hinzukam die charmante Arbeit „In Bed with Martin Luther“ eine Intervention um die Luther-Bronzeskulptur in Eisenach und eine Ausstellung in Jerusalem, die auch eine Leerstelle zeigt, weil das künstlerische Material, das Micha Ullman ausgewählt hat, es war Salz, von Regierungsseite nicht angeliefert werden durfte. Weit über 100 namhafte Künstlerinnen und Künstler waren mit Werken beteiligt von Ai Weiwei über Richard Long, Leiko Ikemura, Daniel Richter, Neo Rauch, Cornelia Schleime, Micha Ullman bis Zhao Zhao. Die Arbeiten gingen eine Beziehung mit kirchlichen Objekten ein, manchmal war es ein heftiges Zwiegespräch, manchmal ein Liebesverhältnis.
 
Für alle war es ein Wagnis – für die Kirchenvertreterinnen und Vertreter, die Kuratorinnen und Kuratoren und auch für die Künstlerinnen und Künstler. Hitzige Diskussionen und Gespräche waren zum Überzeugen nötig. Und genau hier liegt die Schnittmenge und Stärke von Kunst und Orten, die den Zugang zum Glauben erleichtern sollen. Warum? An unserer Gesellschaft ziehen verschiedene Vektoren: seit langem gibt es eine starke Säkularisierung (zurecht verankert in unserem Grundgesetz Artikel 140, mag man sagen, schauen wir unsere Geschichte an). Viele Generationen vor uns haben erlebt und auch wir erleben heute leider immer noch viele Grausamkeiten im Namen des Glaubens. Und zugleich bemerken wir eine zunehmende intellektuelle Auseinandersetzung mit Religion. Ist das nicht paradox, fragen wir uns. Und was hat das mit Kunst zu tun? Mehr Menschen denn je besuchen Museen und Ausstellungen. Wir erinnern uns an etliche Besucherschlangen, die sich bis zu drei-vier Stunden anstellten um einen Blick auf künstlerische Highlights des MoMAs zu werfen, 2006 ausgestellt in der Neuen Nationalgalerie, um die Aura des Originals zu spüren. oder die Retrospektive von Frida Kahlo im Martin-Gropius-Bau 2010. Für viele stehen ihre Arbeiten symbolisch für eine Bild-Transformation von körperlichem Schmerz, Liebesleid und Stärke. Oder auch die Rauminterventionen von Olafur Eliasson, die eine zeitgenössische Position zwischen physikalischem Knowhow und künstlerisch-ästhetischem Kunstwerk vermittelt. Besucherinnen und Besucher sind auf der Suche nach Korrespondenz, nach dem berührenden Momentum, vielleicht unbewusst nach dem Funken Gottes, wenn ich das so formulieren darf. Die gemeinsame Ebene von Kunst und Religion ist die sinnliche Erfahrung. Das Mysterium. Vor tausend Jahren, spürten Menschen im Alltag, dass es Dinge gibt, die außerhalb von uns sind, auf die wir keinen Einfluss haben. Auch heute gibt es sie noch, erlebt sie jeder von uns, dem ein Kind geboren wird beispielsweise. Da spürt der Mensch, dass es Unbegreifliches, ja Wundersames gibt. Als Luther 1517 in Wittenberg seine 95 Thesen anbrachte, wurde durch dessen Wut, Glaube, Kraft und Zweifel die Welt verändert.
 
Der Protestantismus hat vor allem versucht, Religion verstehbar zu machen: Dass jeder die Bibel versteht, war ein Leitgedanke, und eine notwendige Reaktion auf eine verknöcherte Orthodoxie. Aber in der Bewegung, die der Protestantismus in Gang gesetzt hat, hat Religion zunehmend ihr Mysterium eingebüßt. Es ist das Verstehen wichtig, aber auch das Nicht-verstehen-Können. Religion ist zunächst einmal eine sinnliche Erfahrung, nicht eine des Verstandes. Wir erleben den Glauben in Sprache, Musik, Bildern und in Gerüchen. Die Kulturleistung des Glaubens, die Vermittlung der Religion, funktioniert über die Sinne. Kunst auch. Auch sie kann eine Brücke zum Betrachter schlagen, zum Nachdenken und in sich gehen anregen. Während die Kirche vom Frühmittelalter bis zum Spätbarock die großen, die besten zeitgenössischen Künstler zu finden wusste, so fanden im Laufe des 19. Jahrhunderts weitgehend lediglich Exponate des Naturalismus und Historismus, manchmal auch des Kirchenkitsches ihren Platz in Gotteshäusern. Die Erneuerung des religiösen Bildes wurde vernachlässigt. Gerade in Kreisen kirchlicher Kunstfreunde wurde das Verhältnis zwischen künstlerischer Moderne und kirchlicher Frömmigkeit lange Zeit als spannungsgeladen bezeichnet. Religion und Moderne wurden prinzipiell als inkompatibel beschrieben.
Heute erkennt die Kirche, dass sie aufholen kann und sollte. Sie öffnet zunehmend ihre Gotteshäuser für einen Zugang zu Gott und über den Kanal von Kunstwerken von internationalem Rang bis zu Entdeckungen und für eine andere Möglichkeit – gestatten Sie mir den marketingtechnischen Begriff – neue Zielgruppen anzusprechen und auch die Lebendigkeit der Kirche zu unterstreichen. Auf den Schultern der Macher liegt dabei viel Verantwortung. Wie wird die Gemeinde reagieren? Die Medien? Wie die Kunstszene? Eine Kirche ist ja kein White Cube. Und was passiert mit dem Narrativ des Werkes, wird es in einem anderen Kontext gezeigt? Neu, kühn, beeindruckend frisch und mutig ist es, diese Kunstwerke auf ihre Interaktionen im sakralen Raum zu prüfen, die ursprünglich gar nicht dafür gedacht waren. Kühn für alle Beteiligten, die sich von den Triebfedern um Alexander Ochs involvieren ließen. Das Ergebnis war ein neuer Dialog, ein neues System des Austauschs, des Sehens, des Hörens und der Wahrnehmung. Kurz eine Erfahrung, die berüht, wenige kalt lässt und allen eine neue zusätzliche Dimension in der Triade – Betrachter, Kunstwerk und Kunstschaffendem – gab. So gelangte Ai Weiweis Fotografie „Illumination“ in die Kirche St. Thomas von Aquin: Hell leuchtet das Blitzlicht der Handykamera auf, die Ai Weiwei in einer spiegelnden Aufzugskabine über den Kopf hält, während er ein Foto von sich selbst schießt. Mit ihm im Lift: zwei Polizisten und ein befreundeter Musiker. Die Aufnahme ist 2009 kurz nach der Verhaftung des chinesischen Künstlers in einem Hotel in Chengdu entstanden. Sie wurde umgehend per Twitter der internationalen Netzgemeinde zur Kenntnis gebracht und hat so dem Künstler vielleicht das Leben gerettet. Sie war ein Beweis. Das Selfi hing im Kirchenraum an der Wand von St, Thomas von Aquin zwischen zwei einfachen Kerzenleuchtern und signalisiert: Ich bin hier. Der sakrale Raum in seiner schnörkellosen Schlichtheit lud dennoch die Fotografie mit neuer Bedeutung auf. Ich bin hier. Und – sie blieb dennoch autonom.
 
Ausgestellt auch Joseph Beuys Multiple „Für Fußwaschung“. Ein metallenes weiß lackiertes kleines Wasserbecken. Der Zusammenhang zur Kirche erschließt sich sofort. Im Rahmen der Aktion „Celtic“ hat Joseph Beuys 1971 sieben Menschen unter Glockengeläut die Füße gewaschen. Am Ende wurde er selbst mit einer Gießkanne voller Wasser begossen. Durch Gesten und Zeichen wurde eine Geschichte transportiert, die alle sofort verstanden und bis heute verstehen. Beuys meinte damals er wolle die Geste nicht als Wiedertäufer interpretiert wissen. Dennoch passt das Narrativ, obgleich bei Beuys das Christliche in seinem Werk noch spannend zu untersuchen wäre. Ein weiteres Beispiel: Die Fotoarbeit „Kreuzweg“ von Anna und Bernhard Blume. Sicherlich eine Herausforderung für die Verantwortlichen auf Kirchlicher und künstlerischer Seite: Ausgestellt wurde eine fotografische Arbeit eines Themas, das Anna und Bernhard Blume bis ins Alter beschäftigte – und das sie sogar mit dem Katholizismus „kreuzten“: es war die Arbeit des monumentalen „Kreuzweg“. Die beiden Blumes selbst, Balken schleppend und inmitten kunsthistorischer Andeutungen, präsentiert in der St. Marienkirche am Alexanderplatz, links daneben: ein Gemälde der 13. Station des Kreuzweges, Jesus wird vom Kreuz genommen. In ihren Fotoarbeiten beschäftigte sich das Künstlerpaar mit den alltäglichen Erfahrungen im kleinbürgerlichen auch kirchlichen Milieu. Sie machten das auf eine humorvolle und ironische, liebevolle und zugleich distanzierte Weise, indem sie sich selbst einbezogen und den eigenen gesellschaftlichen Hintergrund nie verleugnen. In ihren Bildern gerät der ordentliche deutsche Alltag ins Taumeln – sie sind eine augenzwinkernde Rebellion gegen die, so Bernhard Blume in einem Gespräch „ganze verklemmte, unfreie, autoritäre Situation in unserer Kindheit und Jugend im Nachkriegsdeutschland“. Dabei sind ihre Arbeiten so ehrlich, universell und selbstentlarvend. Ich könnte mir vorstellen, dass diese Arbeit für etliche Kirchgänger ein problematischer Fall war. Hier muss ein einzelner genannt werden, der als bewundernswertes Beispiel für Gewissensprüfung und Wandlung steht: Marie-Alain Couturier (1897-1954), ein französischer Geistlicher und Herausgeber der Zeitschrift L’art sacré. Der Pater hatte 1937 apodiktisch geschrieben: „Kunst, die nicht im religiösen Kontext entsteht, wird niemals religiöse Kunst sein.“ Während seines Aufenthalts in Amerika veränderte sich seine Haltung. 1949 schreibt er: „Der Künstler ist von seinem Temperament her für die spirituelle Intuition prädestiniert und offen für den Geist, welcher weht, wo er will.“
 

Die Vorbedingung: dass in der Kunst im Bild die absolute Freiheit, größte Singularität, größte Individualität gewährleistet ist. Doch was ist ein Bild genau? Man kann es genauso wenig wie Kunst definieren, zumindest nicht einheitlich; es ist auch nie eineindeutig definiert worden. Den Hegelschen Begriff von Kunst – ein sinnliches, visuelles Scheinen von Idee könnte als Definition eines Bildes tragbar sein. Ich verstehe das Wort „Idee“ nicht im Sinne Hegels als Teil des absoluten Weltgeistes, sondern, pragmatisch, als Sinnangebot der gestalteten Form. Eine visuelle Konstitution, die sich mit einem Sinn verbindet, und dieser kann auch sinnlos sein. Bilder werden ebenso je nach sozialer Lage, nach ethnischer Zugehörigkeit, nach Stimmung und „Zeitgeist“ gedeutet. In diesem Zwischenverhältnis von materieller Konstitution und variabler Deutung definiert sich, was unter einem Bild im Speziellen zu verstehen ist: Ein sinnliches, materiell gebundenes Scheinen von etwas, das Bedeutung anbietet und das der Betrachter zu interpretieren vermag. Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott. Kunst ist nicht selbst Wort, und sie illustriert nicht das Wort, aber sie hilft das Wort zu vernehmen, sich zu öffnen und vor allem: im Gespräch zu bleiben. Das ist Kunst und Kultur und im Sinne Gottes: ein wichtiger Schritt gegen Verrohung.

Oder um es abschließend mit Couturier zu sagen: „Ohne Zweifel wären gläubige Genies besser als ungläubige, aber Genies ohne Glauben sind talentlosen Gläubigen vorzuziehen“, und er fügte den großartigen Satz hinzu: „Man muss auf das Genie setzen und an Wunder glauben!“
 
Ich gratuliere für das Wunder, das durch die Ausstellungsserie vielerorts entstanden ist. Und nun im Buch in Bildern und klaren, direkten nicht verklausulierten Worten dokumentiert ist. Meine Gratulation geht an sie alle, die sich dafür verantwortlich zeichnen. Gestatten sie mir die Aufforderung anzuschließen: Weiter so. Genau das braucht die komplexe und globalisierte Welt.