1. Korinther 13, 8-12
Predigt zur Eröffnung der Ausstellung „Reformation!“
Erlöserkirche Jerusalem, 13.11.2016
Prediger: Propst Wolfgang Schmidt

Liebe Gemeinde,

Als ich ein Kind war, gehörte für mich zum Ausland der Zöllner. Ich wuchs im Dreiländereck nahe der Schweiz und nahe Frankreich auf. Und wenn wir über die Grenze fuhren stand da einer, der uns fragte ob wir etwas zu verzollen hätten. Das war die Grenze meiner Kinderjahre. Lange Zeit später als ich ein Mann war, gab es keine Zöllner mehr an diesen Grenzen. Jetzt waren wir Europa. Wir Europäer sind es nicht mehr gewohnt, in einem Land zu leben, wo es noch Zöllner gibt. Und nicht nur gibt: sondern wo diese so viel Macht und Einfluss haben, dass wir heute zur Eröffnung unserer Ausstellung in der Erlöserkirche nur ein halb fertiges Kunstwerk zeigen können. Ich meine die Installation aus Basalt und Salz des israelischen Künstlers Micha Ullmann. Den Basalt haben Sie gesehen. Die dunkle Seite ist hier. Das Salz auf der gegenüberliegenden Seite ist eine Leerstelle. Die helle Seite steht noch aus. Der isrelische Zoll hat uns einen Strich durch unsere Rechnung gemacht. Die Bodeninstallation ist Stückwerk geblieben. Stückwerk. Das Helle und das Dunkle konnten nicht zusammenkommen. Das Mineral aus der alten Heimat, aus den Salzbergwerken Thüringens, wo Micha Ullmanns Familie lebte bis die Nazionalsozialisten es unmöglich machten, hat keine Zulassung in der heutigen Heimat des Künstlers bekommen. Geschichte und Gegenwart kommen nicht zusammen – noch nicht. Zumindest hier nicht. Hier in dieser Kirche. In diesem Kunstwerk. Bislang ist es Stückwerk geblieben. Wenn aber das Vollkommene kommen wird, so wird das Stückwerk aufhören.

Diese Kirche, liebe Gemeinde, ist ein Ort der Begegnung: Begegnung mit anderen, mit Fremden und mit Bekannten, als Gemeinde und über ihre Grenzen hinaus; Begegnung mit mir selbst im Nachdenken, in der Meditation, in der Stille; Begegnung mit Gott im stillen und lauten Beten, im Hören der biblischen Texte, im Singen, im Feiern des Gottesdienstes, im Brot und Wein des Heiligen Abendmahles. Die Kirche ist ein Ort der Begegnung und nun sind  für ein paar Wochen in diesen Raum noch ein paar zusätzliche Gesprächspartner eingetreten – Menschen wie Micha Ullmann mit seiner Bodenskulptur, die in einen Dialog miteinander und mit den Besuchern dieser Kirche und der Gottesdienste eintreten. Eingangs haben Sie gehört, was die Arbeit von Micha Ullmann zu diesem Dialog, zu diesem Gespräch bereits alles beigetragen hat. Und diese Arbeit und die Arbeiten von Chris Newman, von Zhao Zhao, von Daniel Amin Zaman und draußen im Kreuzgang von Brigitte Waldach und Gil Shachar haben alle viel zu sagen – jedem von uns und jeder von uns in einer anderen Weise, in einer anderen Sprache und in unterschiedlicher Intensität.

Als die Bodeninstallation in der vergangenen Woche eingerichtet wurde, war ich gerade in der Kirche zugegen, als zwei deutschsprachige Paare einige Schritte auf die Installation zugingen, dann aber schnell und amüsiert lächelnd auf dem Absatz kehrt machten und einander wissen ließen, dass sie mit solcherlei Dingen nichts anzufangen wüssten.

Wenn wir Kunstwerken wie diesen gegenübertreten, liebe Gemeinde, können wir in uns selbst vielfach ein großes Bedürfnis nach innerer Klarheit und Eindeutigkeit wahrnehmen. Was soll das sein? Was stellt das dar? Ich will begreifen, ich will verstehen, ich will erkennen, was das darstellt, was das sein soll. Ich suche nach einem Sinn.

Kunst und Religion sind Geschwister – in vielerlei Hinsicht. Wir könnten uns jetzt stundenlang über diese Verwandtschaft austauschen. Ich will statt dessen einfach nur Verse aus dem Bibeltext sprechen lassen:

„Unser Wissen ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.  Als ich ein Kind war,  da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind;  als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“

Was meint Paulus mit dem Kind, das er einmal war und dem Mann, der er heute ist? Es ist ein Hinweis auf eine Veränderung, ein Reifen in der Sicht auf die Welt und auf Gott, in der Sicht auf den Glauben. Als Kind dachte ich noch, ich könne es in der ganzen Welt dunkel werden lassen, wenn ich meine Augen schlösse. Aus der stimmigen Weltsicht, die das Kind in seiner Naivität entwickelt, tritt der Erwachsene hervor, der die Welt in ihrer Uneindeutigkeit, in ihrer Gebrochenheit wahrnimmt.

„Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“ Zeitgenössische Kunst in unserern Kirchen öffnet einen Dialog zu diesem Thema. Sie lädt uns ein, uns auf Begegnung einzulassen mit dem Neuen, mit dem Unbekannten, mit dem Stückwerk des Erkennens. Die Arbeiten zu den 10 Geboten von Brigitte Waldach draußen im Kreuzgang bilden nicht einfach 1:1 den biblischen Text ab. Sie sind keine Illustrationen, wie wir sie aus unserer Kinderbibel kennen. Sie schillern in ihrer Bedeutung. Sie sind ein ganz individuelles Zeugnis der Beschäftigung der Künstlerin mit dem Dekalog.

Die Bibel selbst gebraucht ja immer wieder Bilder, die schillern. Ich denke an unserern Gemeindeausflug vor 14 Tagen, als wir in Gruppen über den Johannestext sprach: „Ich bin der Weinstock. Ihr seid die Reben.“ Da fließt der Lebenssaft durch die Reben, aber der Weingärtner schneidet auch das Trockene ab und es wird verbrannt. Hat Gottes Güte auch eine grausame Seite? Hell und Dunkel eins in ihm? Salz und Basalt? Als Protestanten stellen wir dem Bild gerne das Wort gegenüber. Die Kirche der Reformation: eine Kirche des Wortes. Aber unsere Worte sind oft nichts anderes als Bilder. Sie wecken Bilder. Sie wecken Vorstellungen in unseren Köpfen. Sie gebrauchen Bilder zur Veranschaulichung. Metaphern. Symbole. Wir trinken ja kein Blut, wenn wir den Abendmahlskelch zu uns nehmen.

Wenn es um die Religion geht, ist es wie in der zeitgenössischen Kunst: es schillert. Es lässst sich nicht in Gänze greifen und begreifen. Lesen Sie nur einmal die Diskussionen der Rabbinen zu einzelnen Bibelstellen, lesen Sie die Midraschim. Rabbi sowieso sagt dies, der andere Rabbi sagt jenes und ein dritter hat noch einmal seine eigene Meinung dazu. Nicht umsonst wurde uns vorhin mit der alttestamentlichen Schriftlesung noch einmal in Erinnerung gebracht, was zum Kernbestand unseres Glaubens gehört: Du sollst dir kein Bildnis machen von Gott! Darum muss alles Reden von Gott immer etwas Schillerndes, etwas Gebrochenes, etwas Verhüllendes haben. Es ist ein Reden mit Vorbehalt, der erst endet, wenn die Erkenntnis vollkommen wird, wenn wir von Angesicht zu Angesicht sehen.

„Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.  Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“

Diese Worte stehen in dem berühmten Abschnitt des ersten Korintherbriefs über die Liebe. Das Hohe Lied der Liebe wird es manchmal genannt. Und der Abschnitt selbst beginnt ja auch mit dem Satz: „Die Liebe hört niemals auf.“ Der Abschnitt bringt die Begriffe „Liebe“ und „Erkennen“ zusammen. Alles ist Stückwerk, das einmal zuende gehen wird, außer der Liebe, die hört niemals auf, bis wir schauen von Angesicht zu Angesicht. Im vollen Erkennen kommt sie zum Ziel. In der Hebräischen Bibel wird die liebende Vereinigung eines Paares mit dem Wort „erkennen“ beschrieben. Adam erkannte Eva. Sie liebten einander. Erkennen kommt also nicht aus der Distanz, aus dem Abstand. Im Gegenteil. Erkennen kommt, wenn ich mich einlasse auf mein Gegenüber. Es geschieht in der Verschmelzung. So verstehe ich die Verheißung des Endes: Dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.

Und vielleicht, liebe Gemeinde,ist das auch der Weg, den Ausdruckformen der Kunst in dieser Kirche zu begegnen: sich auf sie einlassen – wohlwollend! – und darauf lauschen, was sie in mir berühren. Wohl wissend, dass alles Stückwerk bleibt bis wir schauen von Angesicht zu Angesicht.

 

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