Die meisten Arbeiten Anastasia Khoroshilovas, z.B. The Obedient (2008), Starie Novosti (2011), People without a territory (2011), entstehen aus Begegnungen mit ‚einfachen‘  Menschen. Oftmals von der Öffentlichkeit Ungehörte, denen die Künstlerin mittels Film und Fotografie eine Stimme gibt. Sie spürt verlorengehende Erinnerungen auf und  verleiht  ihnen erneutes Gewicht. 1978 in Moskau geboren, beschäftigt sich die Fotografin mit der Vergänglichkeit des kollektiven Gedächtnisses und benutzt die Kunst als eine Form der Recherche.

Zusammen mit der deutschen Journalistin Annabel von Gemmingen reiste Khoroshilova 25 Jahre nach dem Mauerfall und dem Zerfall der Sowjetunion nach Lettland, um das Schicksal von Kriegsveteranen zu erforschen. Sie treffen Letten, die auf deutscher oder russischer Seite kämpften und russischsprachige Veteranen, die als Staatenlose in Lettland leben. Einstmals für ihre Verdienste auf dem Schlachtfeld hoch dekoriert, sind sie heute ,die Übrigen‘. Gemeinsam mit der Berliner Autorin und Kuratorin Anne Maier geben Khoroshilova und von Gemmingen ein bebildertes Buch heraus.

 

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Zwischen Fotos von Uniformjacken, lettischer Landschaft und eines Privatmuseums mit Exponaten aus dem II. Weltkrieg sticht ein Einzelbild heraus: Zu sehen ist Haut. Fast schon hyperrealistisch, ungeschönt in all ihren Farbnuancen und Strukturfacetten. Weiße alte Haut mit Sommersprossen, Leberflecken, Muttermalen und einer Narbe. Inzwischen verwachsen. Aufgrund ihrer Form und Größe sowie dem gewählten Anschnitt ist zu vermuten, dass es sich um eine Schusswunde im rechten Schulterblatt handelte. Obwohl inzwischen verheilt, zeugt sie dennoch lebenslänglich von der Gewalt und Todesgefahr des Krieges.

Gleich einer Ikone steht die kleinformatige Fotografie auf dem Altar der Tauf- und Traukirche des Berliner Doms. Die Narbe erinnert an die Seitenwunde Jesu Christi, die ihm am Kreuz zugefügt wurde. Die Verletzlichkeit und Abtötung seines Körpers galt den Schächern als Beweis des Mensch-Seins, der nicht göttlichen Natur des ‚Königs der Juden‘. Insbesondere in der Mystik des Hochmittelalters fand die Seitenwunde eine besondere Verehrung und damit einhergehend eine Vielfalt an Darstellungsformen. Der in der Romanik über den Kreuzestod triumphierende Christus wird in der Gotik als leidender Mensch mit blutender Seitenwunde dargestellt. Dieses Motiv ist sowohl als lebensgroßer Kruzifixus als ‚Kruzifix aus Pisa‘ aus dem 14. Jhd oder als das um 1425 geschaffene Kruzifix von Antonio Bonvicino im benachbarten Bode-Museum zu sehen. Die Arbeit der russischen Künstlerin Anastasia Khorshilova bringt die Seitenwunde in den Dom zurück.

Ausstellungsansicht Berliner Dom: Anastasia Khoroshilova, Die Übrigen, Courtesy Galerie Volker Diehl, Foto © Marcus Schneider

Ausstellungsansicht Berliner Dom: Anastasia Khoroshilova, Die Übrigen, Courtesy Galerie Volker Diehl, Foto © Marcus Schneider