Leiko Ikemura ist Japanerin und lebt in Berlin. Sie studierte im spanischen Sevilla, lebte in der Schweiz, hatte eine Professur in Berlin. Wir erleben sie als eine internationale Künstlerin, eine großartige Malerin und Bildhauerin und doch: die japanische Kultur, ihre in Asien basierende Spiritualität bleibt sichtbar. Nun stellt Leiko Ikemura von ihr geschaffene Skulpturen im Berliner Dom aus. Oder genauer, sie installiert zart-farbige Keramiken in leeren Nischen, die so seit der Eröffnung des Berliner Doms in seiner heutigen Form, im Februar 1905, existieren. Es war damals wie heute: der Architekt Julius Carl Raschdorff überzog sein Budget, der Kaiser hatte kein Geld mehr, die Mäzene stiegen aus. Die mit vergoldeten Konsolen versehenen, mit dunklem Marmor ausgekleideten Nischen unter den Emporen und hinter der Kanzel blieben leer. Bis heute.

Die Figuren Ikemuras sind von Kopf bis Fuß mit bodenlagen Gewändern bekleidet. Individuelle Details fehlen ebenso wie das Gesicht. Dort, wo wir sonst ein Gesicht sehen, schaut ein großes schwarzes Loch uns an. Eine schreiende, alles verschlingende Öffnung, die an den aufgerissenen Mund einer Figur aus dem Lebensfries von Edvard Munch erinnert. Und nicht nur an diesen weltbekannten Schrei erinnert sie, vielmehr auch an Frauen, Körper und Gesichter von Frauen, die über das Meer kommen, die hunderte Kilometer zu Fuß kommen, Frauen mit leeren Gesichtern, die uns täglich im Bildschirm entgegen sehen.

Doch ist die Kleidung an Ikemuras Skulpturen nicht ‚zur Flucht‘ geeignet. Lange Gewänder verdecken Körper die oft aussehen wie gequält und in sich gedreht. Bodenlange Gewänder, mit Schleiern versehen, wie heilige Frauen sie tragen. Heilige Frauen, die Diskriminierung, Marter und Gewalt erlebten und erleben wie Millionen Frauen in aller Welt jeden Tag auf jedem Kontinent. Und trotz ihres Schreis, die Skulpturen Ikemuras zeigen Haltung und Würde. Eine Haltung wie wir sie von den Virgines capitales , den vorzüglichen Jungfrauen, kennen und wie wir sie im dem Dom benachbarten Bode-Museum finden. Bildwerke christlicher Märtyrerinnen: Katharina, Barbara, Margaretha und Dorothea, die die katholische Kirche heiligsprach und die von der evangelischen Kirche immer noch mit Gedenktagen bedacht sind. Heilige Frauen, die in der westlichen Bildtradition stets makellos und schön dargestellt wurden, obwohl sie zu Lebzeiten Folterqualen erlitten. Wie Barbara, die im libanesischen Helopios gegeißelt und verstümmelt und anschließend von ihrem Vater enthauptet wurde, weil sie sich zu Christus bekannte. Auch Katharina wird im Bode-Museum in einem 1480 geschaffenen Relief kurz vor ihrer Enthauptung nach ihren Martern als die Edle, die Andächtige, die Besonnene dargestellt.

Und so schwiegen die bildlichen Darstellungen durch viele Jahrhunderte über den Schmerz. Es blieb eine Leerstelle, wie die Nischen im Dom Leerstellen bilden. Darum werden sie in Teilen auch leer bleiben, andererseits im von Kaiser Wilhelm dem Zweiten initiierten ‚Männerdom‘ erstmals Skulpturen von Frauen zeigen und so über die Situation aller Frauen reflektieren. Aus der Nähe betrachtet zeigen Ikemuras Skulpturen Spuren genannter Verletzungen und Verstümmelungen. Ein Körper ist durchlöchert, der zweite zeigt Striemen, ein Arm ist abgerissen. Und doch haben sie sich von der Idee westlicher Kunst weit entfernt.

Das japanische Wabi-Sabi Prinzip, eine Idee über Schönheit und eng mit dem Buddhismus verbunden, verknüpft sich in Leiko Ikemuras Arbeit mit dem westlichen Bildgedächtnis und füllt dessen Leerstellen auf. Das Asymmetrische, das Raue und Unregelmäßige, das Einfache und Unvollständige, aus der sich die Ästhetik Ikemuras entwickelt, trifft auf die strengen und doch oft kopierenden, zitierenden und damit nicht originären Konstruktionsprinzipien des Berliner Doms. Leiko Ikemuras Arbeit schaffen Reflektionsflächen. Fragen an die christliche Glaubensgeschichte tun sich auf.

Bis zum 17. April zeigt das Haus am Waldsee, Berlin, Malerei, Zeichnungen, Plastik, Gedichte von Leiko Ikemura.