Predigt am Sonntag Trinitatis
zur Eröffnung der Ausstellung „Sein. Antlitz. Körper.“ in der St. Marienkirche
Römer 11,33-36

Er hatte dieses Leuchten in seinen Augen. Es war Teil seines Gesichtes, seiner Gestalt. Es übertrug sich. Unmittelbar. Unabhängig davon, ob er Schönes oder Trauriges zu berichten wusste – das Leuchten blieb.

Mit diesem Leuchten in den Augen ging er manchmal über einen Bahnhof und suchte zu jedem Gesicht das passende Adjektiv. Die Bezeichnungen, die ihm dann in den Sinn kamen hießen: großspurig – nervös – misstrauisch – gramvoll – verzweifelt – bitter – enttäuscht – verächtlich. Gibt es hinter diesen Gesichtern den unsichtbaren Menschen, den nie Begriffenen? Einen, der zu unscheinbar ist, als dass sich irgendjemand die Mühe machen würde, Notiz von ihm zu nehmen, zu fragen, was er denkt oder leidet?
Roger Willemsen, der diese Frage stellt, ist tot.
Sein ansteckendes Staunen, sein Sehnen danach zu sehen, was ist, bleibt.

Liebe Gemeinde, es ist Trinitatis. Die Zeit im Kirchenjahr, die staunen lässt und zum genauen Hinsehen anleitet.
Was feiern wir da?
Dass Gott in drei Personen existiert.
Was vielen ein kritischer Umstand ist, macht es uns gerade möglich, so konkret wie möglich von Gott und der Fülle seiner Wirklichkeit zu sprechen.
Gott, Schöpfer, tritt aus seiner Anonymität heraus, er macht sich mit Namen bekannt und lässt sich anrufen. Er gründet Gemeinschaft.
Gott wird Mensch, gibt sich zu erkennen, lässt sich berühren, macht sich verwechselbar.
Und Gott wirkt im Geist unaufhörlich auf die Welt ein, durchströmt und erfüllt sie.
Alles, alles hat seinen Ursprung, seine Begründung und sein Ziel in ihm und zu ihm hin.

„O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Entscheidungen und unerforschlich seine Wege. Aus ihm und durch ihn und zu ihm hin ist alles.“, staunt Paulus.

In all dem tritt Gott als Person in Erscheinung. Er liebt, redet, eifert, hört, sieht, erbarmt sich und wird so zu einem Du. Zugleich übersteigt er das, was von einem Menschen als Person gesagt werden kann. Er bleibt unbegreiflich und unerforschlich.
Wie geht das zusammen?

Womöglich ist die Frage schon falsch.
Denn sie setzt voraus, dass Religion über den Verstand zu begreifen ist. Verstehen ist wichtig, ja. Aber das Nicht-verstehen-Können auch.
Das Nichtbegreifen seines Geheimnisses, das ich nicht erfassen kann, aber vielleicht in manchen Momenten als Wirklichkeit erlebe und bestaune.
Momente, von denen Hiob bekennt „Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen; nun aber hat mein Auge dich gesehen.“ (Hiob 42,5)

Cordula Machoni_St Marien

Wenn Gott uns als der Unbegreifliche und Unerforschliche begegnet, was können wir Anderes tun, als sich ihm staunend nähern?
Denn was ist Staunen anderes als – wie Dorothee Sölle einmal sagte – das immer wieder neue Freiwerden von Gewohnheiten, Sichtweisen und Überzeugungen, die sich wie Fettschichten um uns legen. Die unberührbar und unempfindlich, blind, taub und bequem machen. Dass wir uns berühren lassen, dass ohne Staunen nichts Neues beginnen kann, das ist die Urhaltung des Glaubens.
Kermani:
Diese Haltung ist heute schwer durchzuhalten. Der Mensch, der angesichts der Entdeckung der Welt und ihrer Wunder merkt, wie bedürftig er ist, ist selten anzutreffen.
Er ist dem gewichen, der gelernt hat, die Gesetzmäßigkeiten von Vorgängen zu durchschauen, in sie einzugreifen.
Das Ziel, sich selbst zu optimieren ist an die Stelle religiöser Erfahrung getreten.
Je mächtiger der Mensch wird, umso geringer erscheint ihm das Geheimnis, umso weniger spürt er im Alltag, dass es Dinge gibt, die außerhalb seines Könnens liegen, und auf die er keinen Einfluss hat.

Und doch gibt es sie, erlebt sie jeder, dem ein Kind geboren wird, der einen geliebten Menschen sterben sieht oder Rettung aus Gefahr erfährt – jeder spürt, dass es Unbegreifliches, Wundersames gibt. Auch wenn er es nicht mit Gott in Zusammenhang bringt.

Liebe Gemeinde, ab heute ist die Marienkirche ein Ort sichtbarer Interventionen.
Diese laden ein zu staunen. Genauer hinzusehen und dahinter liegende Geschichten zu entdecken. Das Unsichtbare, Unbegreifliche, Wundersame sichtbar zu machen.
In einer Kirche. Die Stille und Ruhe zum Staunen und Verweilen birgt.
In einer Kirche. Die in Kunst und Ausstattung Zeugnis ist für das Handeln Gottes in der Zeit. Zeugnis für seine unergründlichen Entscheidungen an den Menschen.
In einer Kirche. Deren Umfeld als Fülle Gottes in der Welt den Betrachter / die Betrachterin trunken macht.

Diese Interventionen initiieren das Sehen, sinnlich wie geistig. Und geistlich.
Bringen mich hin zu mir, und von mir weg, hin zu den Menschen, zu Gott?

Wodurch wirken sie? Drei von ihnen möchte ich betrachten.

Die ‚Mutter‘ von Julia Krahn tritt mir unmittelbar gegenüber.
Ihr zarter Alabasterkörper wirkt zerbrechlich. Wird beinahe eins mit dem weißen Tuch, das ihr Haar bedeckt und über die rechte Schulter hinab über die Armbeuge gleitet, wo es eine unzweifelhafte Leerstelle bildet. Analogien zu Maria als Namenspatronin dieser Kirche lägen nahe. Maria, die um den getöteten Sohn trauert. Das schneeweiße Tuch als Symbol des Leichentuchs und im Kontrast zum Blut, das angesichts des Foltertodes vor Augen steht.
Doch ich verstehe die Mutter auf eine unmittelbare Weise – in diesem Falle durch die Einfühlung in das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann. Dass ich mein gestorbenes Kind im Arm halte. Das erschüttert mich bei dem bloßen Gedanken.

Anders fühlt es sich an bei der Intervention von Alexandra Ranner in der Nähe des Taufkessels. Sie ist namenlos. Und hat doch viele Namen. Denn ich sehe darin eine Fortsetzung dessen, was uns seit Jahren ins behaglich eingerichtete Wohnzimmer flimmert: Zerstörte Häuser an den Kriegsschauplätzen dieser Welt. Dieser unmittelbare Anblick zerreißt einmal mehr die Schleier der Trivialität und öffnet den Raum, zu staunen. Mit Blick auf den gebauten Himmel, die religiöse Schönheit dieser Kirche. Mit Blick auf Gebautes.
Nichts ist selbstverständlich!
Und am wenigsten die Schönheit!

Und schließlich der Kreuzweg von Anna und Bernhard Blume.
Das Kreuz, ein Ausdruck, der an vielen Orten hier in der Marienkirche zu sehen ist, findet durch die beiden Menschen, die das Kreuz tragen eine Entsprechung in der Zeit.
Unmittelbar begegnet mir das täglich auf der Straße. Z.B. mit Blick auf die Polizisten mit den schwarz behandschuhten Fingern vor ein paar Tagen am Alexanderplatz. Sie versuchen einen Mann aufzurichten, der am Boden liegt. Wodurch hat sie begonnen, die Passion dieses Menschen da auf dem Asphalt; mit seinen eitrigen Schienbeinen und der aufgegebenen Scham angesichts einer bis zu den Lenden herabgerutschten Hose? Wer wird helfen, sein Kreuz zu tragen, sich die Mühe machen, Notiz von ihm zu nehmen, zu fragen, was er denkt oder leidet?

Liebe Gemeinde, dass diese Interventionen uns ein Stück durch die Trinitatiszeit begleiten ist wundersam. Denn sie lehren einmal mehr das Staunen, die radikale Verwunderung, das Betrachten und Zur-Ruhe-kommen.
Sie stellen Fragen. Was nehme ich wahr? Was lasse ich an mich heran? Was berührt mich? Was wähle ich aus?
Vielleicht auch: Wie weit entfernt bin ich vom wirklichen Leben mit Gott?
Dem dreieinigen Gott, in dessen Geheimnis und Unergründlichkeit sowohl Liebe und Erbarmen als auch Abgrund und Verzweiflung liegen.
Gott, der sich der Logik von Geben und Nehmen entzieht.
Der menschlichem Denken überlegen bleibt und dessen Wirken nicht entschlüsselt werden kann.
Gott, der gegenwärtig ist in der Welt. Nicht für den flüchtigen Blick.
Für den, der lange verweilend schaut, hört, tastet, riecht. So dass Menschen, Dinge, Ereignisse zu sprechen beginnen.

Denn von ihm und durch ihn und zu ihm hin sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit. Amen.

Cordula Machoni

Es gilt das gesprochene Wort.