stmarien

St. Marien am Alexanderplatz
Karl-Liebknecht-Str. 8
10178 Berlin

DAS KOPFTUCH DER MIGRANTIN / IHR KREUZ TRAGEN.
22. Mai bis 28. August 2016

Öffnungszeiten: täglich 10.00 – 18.00 Uhr, Eintritt frei.

Mit Arbeiten von Anna und Johannes Blume, Marta Deskur, Helen Escobedo, Julia Krahn, Alexandra Ranner + Peter Riek als Gast

Predigt zur Eröffnung von Pfarrerin Cordula Machoni

Installationviews
Fotos: Marcus Schneider

Unsere Ausstellungreihe SEIN.ANTLITZ.KÖRPER. KIRCHEN ÖFFNEN SICH DER KUNST. entwickelt sich weiter. Nach Stationen im Berliner Dom, in St. Thomas von Aquin, St. Canisius am Lietzensee und St. Michael  lädt St. Marien am Alexanderplatz zu einer Präsentation mit dem Titel ‚Das Kopftuch der Migrantin. Ihr Kreuz tragen.‘ ein. Bei St. Marien handelt es sich um die älteste Berliner Gebetsstätte, erstmals urkundlich erwähnt ist diese – heute evangelische – Kirche der ‚heiligen Maria Mutter Gottes‘ gewidmet. Zahlreiche alte Mariendarstellungen in der Kirche zeigen die heilige Mutter mit Kopftuch, einem Kopftuch, wie sie auf der fotographischen Arbeit ‚Mutter‘ von Julia Krahn zu sehen ist. Mittig als Hüftstück portraitiert steht eine unbekleidete Frau dem Betrachter unmittelbar gegenüber. Ein weißes Tuch bedeckt ihr Haar und gleitet über die rechte Schulter hinab über die Armbeuge, der Blick konzentriert sich auf einen unsichtbaren Säugling, auf eine Leerstelle.

Julia Krahn, Mutter, 2009, Courtesy of KULTUMdepot Graz

Julia Krahn, Mutter, 2009, Courtesy of KULTUMdepot Graz

Julia Krahn ist eine der wenigen zeitgenössischen Künstlerinnen, die sich in ihren Werken mit der Tradition und dem Bildgedächtnis christlicher Motive auseinandersetzen. 1978 in Aachen geboren und katholisch erzogen, beeinflussten sie katholische Glaubensvorstellungen und deren Bilderwelt. Nach eigenen Angaben interessiert es Julia Krahn, durch künstlerische Auseinandersetzung dieser Prägung auf den Grund zu gehen. Anhand der christlichen Ikonografie arbeitet sich die Künstlerin an gleichermaßen allgemeinen wie persönlichen Themen ab, beispielsweise der Beziehung Vater/Mutter – Kind. Dabei inszeniert sie sich stets selbst vor der Film- oder Fotokamera, als Mater Dolorosa, Engel oder Maria Magdalena.

Die auf ein mittleres Format aufgezogene Fotografie Mutter wirkt nicht nur durch die Größe sehr intim. Mittig, als Hüftstück portraitiert, steht eine unbekleidete Frau vor grauem Hintergrund den Betrachtern unmittelbar gegenüber. Ein weißes Tuch bedeckt, gleich einem Schleier, ihr Haar und gleitet über ihre rechte Schulter hinab in die Armbeuge, wo der Zipfel auf den angewinkelten Armen so drapiert ist, als ob ein Säugling darin ruhen würde. Das Baby fehlt. Der Blick der Frau richtet sich dennoch konzentriert auf diese Leerstelle.

Der formale Bezug zur Darstellung der Gottesmutter Maria ist evident. Auf ungezählten Bilder halten Madonnen ihren kleinen Sohn auf dem Arm, während sie im Geiste bereits seinen Tod vorhersehen. Gleichwohl bezieht sich das Bild auf emotionaler Ebene auch auf übergeordnete Fragestellungen, wie die nach Geborgenheit, Heimat, Herkunft, Lebensweg und der eigenen Leerstelle im Leben. Anknüpfend an die Tradition des Andachtsbildes gibt die Fotografie den Rezipienten Raum, eigene Bedürfnisse zu erforschen.

Marta Deskur, Fanshon II, 2003, Courtesy Privatsammlung Berlin

Marta Deskur, Fanshon II, 2003, Courtesy Privatsammlung Berlin

Die polnische Künstlerin Marta Deskur wurde 1962 in Krakau geboren, sie lebt und arbeitet dort. Ihr Kunststudium und Artist in residence – Programme führten sie nach Frankreich, New York, in die Dominikanische Republik und ins Berliner Künstlerhaus Bethanien. Während dieser Zeit wohnte Deskur im türkisch geprägten Stadtteil Kreuzberg, wo sie, anknüpfend an ihr bisheriges Werk, die Arbeit Fanshon II entwickelte. Dafür filmte und beobachtete Deskur kopftuchtragende Frauen.

Kopftücher sind oft Ausdruck religiöser Zugehörigkeit. Im orthodoxen Judentum ist es für verheiratete Frauen noch heute Brauch, ihr Haar zu bedecken (Genesis 24,64-65). Auch im Christentum wird das Kopftuch im Alltag vor allem von Frauen der orthodoxen Kirchen und in einigen mennonitischen Gemeinschaften getragen, in vielen anderen Kirchen ist es für Frauen üblich, das Haupt zumindest beim Gebet zu bedecken (1.Kor. 11,5). Bemerkenswerterweise ist das Kopftuch jedoch gerade für muslimische Frauen gebräuchlich geworden, obwohl im Koran keine diesbezüglichen Vorschriften zu finden sind.

Marta Deskur stach die Diversität der Kreuzberger Haarbedeckungen ins Auge. Vielfarbig, gemustert, verschiedenartig gebunden oder gesteckt – als Modeaccessoire sind sie individueller Ausdruck der Frauen und inspirierten die Künstlerin zu einer Videoperformance. Den Modeaspekt kehrt Deskur auch durch den Titel der Arbeit hervor, indem Sie das polnische Wort „fanszon“ (ein dreieckiges, im Nacken zusammengebundenes Kopftuch) mit dem englischen „fashion“ (Mode) zu einem Neologismus kombiniert.

In Fanshon II bearbeitet Marta Deskur das Thema erneut in einer haptischeren Weise. Losgelöst von den Frauen und aus der Umgebung herausgenommen, nutzt die Künstlerin nur das Bild der gebundenen Tücher, um Keramikfliesen ornamental zu verzieren. Eine Reminiszenz an die bilderarme, ornamentale islamische Kunst? Ikonografisch betrachtet, verkehrt Deskur das berühmte Sudarium – das Tuch der Veronika, in das sich das „vera ikon“, das wahre Antlitz Christi, abdrückte – indem sie den Schleier selbst in die Fliesen einschreibt. Letzten Endes stehen die Betrachtenden vor Abbildern einer Vielzahl bunter Hüllen, die losgelöst von kulturellen, sozialen, theologischen, politischen und Gender-Debatten ebendiese fast ad absurdum führen.

Alexandra Ranner, ohne Titel (Haus II), Courtesy of the Artist, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Alexandra Ranner, ohne Titel (Haus II), Courtesy of the Artist, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Alexandra Ranner ist Professorin für Bildende Kunst an der Berliner UdK/Universität der Künste. In den 1990’er Jahren studierte sie Kunst in München und Lissabon. Installationen, Filme, Fotoarbeiten, Skulpturen – ihr Oeuvre ist breit und vielfältig, doch kreist es stets um die Auseinandersetzung und syntaktische Aufladung von Architektur und Räumen. Um ortsgebundene Objekte, die durch die Hand der Künstlerin in Spannung versetzt werden und von Bewegung und Leben zeugen.

Die Plastik in dieser Ausstellung trägt keinen Titel. Vielleicht, weil die Künstlerin selbst dem Werk noch beobachtend gegenübersteht und es als ein Objekt im Entstehen begreift. Gegossen hat sie das Modellhaus aus Gips, danach systematisch zerstört. Eine abgetragene Seite klafft als offene Wunde und bringt die Statik bedenklich ins Wanken. Der Eindruck entsteht, das Haus könne jederzeit in sich zusammenfallen. Spannung erzeugt überdies der wankende Untergrund. Das Modell steht nicht auf festem Boden, sondern wird allein von Winkeln auf einem rollenden Untersatz gehalten. Dennoch wirkt die Plastik auch aufrecht und erhaben, streckt uns ihr gebeuteltes ‚Angesicht‘ offen, fast stolz entgegen.

2013 schuf Ranner eine vergleichbare Skulptur, die sie Portrait nannte. Der Bezug zum Menschen liegt auf der Hand. Martin Heidegger bezieht die Symbolkraft des Hauses auf den Erdenbürger, der sein Leben gebunden an Raum und Zeit verwirklicht. Menschsein heißt als Sterblicher auf Erden sein, heißt: Wohnen. Auf das Symbol Haus bezogen heißt das: Es ist mehr mit dem Haus gemeint als das Gebäude. Hier gehören alle familiären, verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen dazu. „Diesem Haus ist heute Heil widerfahren“, sagt Jesus zu Zachäus (Lk 19,9) und meint damit das Heil, das der Familie widerfährt und das hat Auswirkungen auf die ganze Dorfgemeinschaft.

„Das Haus ist ein lebendiges Wesen“, titelt das Institut zur Erforschung Holistischer Architektur. „Es atmet. Trinkt. Empfängt Energie und gibt sie wieder ab. Es ist Teil des umgebenden Systems und seiner Stoffkreisläufe. Es verändert sich, ist nicht statisch. Wehrt sich nicht, sondern nimmt und gibt. Ist Hülle für Leben.“ Problematisch wird es, wenn diese bergende Hülle wegbricht. Wenn zerstörte Häuser den Aufbruch erzwingen. Zwangsläufig erinnert uns o.T. (Haus II) auch an Medienbilder, die uns seit Jahren täglich konfrontieren: Zerstörte Neubauten im Gaza, in Aleppo, in Damaskus und anderswo auf den Kriegsschauplätzen dieser Welt.

Wie Fanshon II ist Coronation („Krönung“) eine Arbeit der polnischen Künstlerin Marta Deskur. Auch sie ist fragmentarisch. Auch hier arbeitet Deskur mit Ausschnitten, um Bedeutungen zu verschieben, umzukehren oder aufzubrechen.

Von links ins Bild hinein ragt ein Paar unbekleideter, glattrasierter makelloser Frauenbeine. Eine Männerhand reicht ein weißes Tuch. Die Körperteile schweben in einem raumlosen Weiß. Auf einen Leuchtkasten montiert, strahlt der Hintergrund licht. Die Szene wirkt dadurch entrückt, fast überirdisch, zumindest aber nah am Charakter ritueller Handlungen.

Die Inszenierung lässt an das biblische Motiv der Fußwaschung denken. Im Alten Orient war es eine notwendige und übliche Sitte, die Füße vom Staub der Straße zu reinigen. Im Dienst an den anderen wurde sie ein Zeichen der Gastfreundschaft und Ehrung. Eine Sünderin wäscht Jesus beim Gastmahl mit ihren Tränen die Füße, trocknet sie mit ihren Haaren und salbt sie mit kostbarem Öl (Lk 7,36-40).

Übertragend steht die äußerliche Waschung auch als Symbol für innere Reinigung. Vom Priester, der das Stiftszelt betritt, wird verlangt, dass er sich Füße und Hände wäscht (Ex 30,17-21; Ex 40,30-32). Nicht zuletzt in der Taufe wird diese Idee wieder aufgenommen: Die äußere und innere Reinigung als Annährung an Gott.

Im Neuen Testament, der wohl berühmtesten Fußwaschung, säubert Jesus selbst seinen Jüngern die Füße und trocknete sie mit einem Tuch (Joh 13,1-11). Er gab dieses Beispiel der Demut seinen Jüngern, damit auch sie untereinander zum Dienen bereit seien. Gleichwohl antwortet Jesus dem erstaunten Petrus „Was ich tue, verstehst du jetzt noch nicht; doch später wirst du es begreifen.“ (Joh 13,7). Er benutzt die Handlung also auch, um auf eine geistliche Tätigkeit hinzuweisen, die Petrus später verstünde. Die übertragene Fußwaschung ist mit Christus‘ Stellung „später“ im Himmel verbunden, von wo aus Er jetzt für die Seinen tätig ist. Dieser Gedanke nährt sich in Deskurs Arbeit auch dadurch, dass kein Wasser zu sehen ist. Die Füße sind nicht nass, dafür in Licht getaucht. Es geht um die Geste.

Der Titel „Die Krönung“ verweist ebenfalls darauf. In der christlichen Ikonografie ist die Krönung Mariens ein gängiges Motiv seit dem 12. Jahrhundert. Die Aufnahme und Krönung der Gottesmutter nach ihrem irdischen Tod ist ein Bild der Vollendung, da Maria von der heiligen Dreifaltigkeit Gottes aufgenommen und ins Geheimnis Gottes eingeschrieben wird.

Es sind Frauenbeine in Coronation. Statt der Krone wird ihnen ein Handtuch gereicht. Damit wird der Dienst am Nächsten, Teil des höchsten Gebotes der Christen, als Stufe zur Krönung, zum Einswerden mit Gott, hervorgehoben.

Anna und Bernhard Johannes Blume, Kreuzweg, 2011, 4-teilig, Fotoprinz, je 180 x 110cm, Courtesy KULTUMdepot Graz, aus: IRREALIGIOUS! Parallelwelt Religion in der Kunst (2011/12), © VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Anna und Bernhard Johannes Blume, Kreuzweg, 2011, 4-teilig, Fotoprinz, je 180 x 110cm, Courtesy KULTUMdepot Graz, aus: IRREALIGIOUS! Parallelwelt Religion in der Kunst (2011/12), © VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Das Kölner Künstlerpaar Anna und Bernhard Blume wurde u.a. für ihre humorvoll-erzählerischen Fotoserien bekannt. Sie inszenierten Klischee-Orte des Kleinbürgertums – Wohnzimmer, Küche, Wald. Darin bewegten sich die Künstler wie Slapstickkomödianten. Sie ironisierten und überzeichneten die gewohnte Lebenswelt indem sie alltägliche Situationen chaotisierten. Die Komik erwacht zur Inspirationsquelle für den Intellekt.

Gemeinsam ist diesen Serien auch ein durchgängiges formales Prinzip: Großformatige schwarz-weiß Fotoabzüge werden in Reihe gehängt, gleich eines Polyptychons. Optisch verbinden sich die Einzelbilder durch fortgeführte Achsen und Linien. Die Fotografien muten teils konstruktivistisch, teils futuristisch an. Sie wirken durch starke schwarz-weiß-Kontraste und große Flächen. Die Blumes arbeiteten mit Unschärfen, Aufnahmen in Bewegung und Verfremdungen und lösten dadurch die Bilder von vermeintlichen Realitätsdarstellungen.

Anna und Bernhard Blume, beide Jahrgang 1938, lernten sich als Studenten an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf kennen, wo sie von 1960 bis 1965 studierten. Später heirateten, lebten und arbeiteten sie zusammen, bis Bernhard Blume 2011 verstarb.

Kurz zuvor entstand die Arbeit „Kreuzweg“. Wie in der Großbildserie „de-konstruktiv“ (2005 -2007) ist sie vordergründig ein Spiel mit Balken und geometrischen Formen. Doch diese Balken sind zu Kreuzen verbunden. Ein Andreaskreuz, ein griechisches Kreuz und Taukreuze sind auf den vier Bildtafeln auszumachen. Während Bernhard Blume ‚sein Kreuz‘ schultert und emporblickt, inszeniert sich die Künstlerin als erschreckte, vielleicht zum Himmel flehende, Maria Magdalena. Die beiden spielen die Passion – und trauen sich damit an die Kernbotschaft eines weiteren kleinbürgerlichen Ortes, die Kirche.

Helen Escobedo, Die Flüchtlinge, 2001, © Frauenmuseum Bonn

Helen Escobedo, Die Flüchtlinge, 2001, © Frauenmuseum Bonn

Die oft monumentalen Skulpturen und Installationen der mexikanischen Künstlerin Helen Escobedo (1934 – 2010) sind auf fast allen Kontinenten vertreten. Sie selbst lebte und arbeitete in Berlin und Mexiko City, war Museumsdirektorin in Mexiko City und Kuratorin internationaler Ausstellungen. So ist es nicht verwunderlich, dass sich auch ihr eigenes Schaffen internationalen Themen widmete. In den 1990’er Jahre wurden Escobedos Installationen zunehmend politisch. Marea nocturna, Boote aus Draht und mit Kokosnussschleudern bewaffnet, „sichern“ den Strand von Tijuana an der US – Grenze, um Immigranten abzuwehren.

Die Arbeit Die Flüchtlinge ist von 2001, doch relevanter denn je. Menschliche Figuren, zusammengebunden aus Stoffresten, ziehen in einer langen Kolonne ihres Wegs. Die Fetzen am Leib zeugen von Not. Ihre Körper und Köpfe sind gebeugt, auch voneinander nehmen sie keine Notiz. Trotz der bunten Farben ist die Atmosphäre düster und trist. Keine Gesichter, kein Wort, keine Bewegung. Nur die stille, mahnende Monumentalität der 58 Figuren auf ihrem ‚persönlichen Kreuzweg‘. Sie wirken lebloser als der über 22 Meter lange Reigen der Toten und Geistlichen, der als Fresko über ihren Köpfen die Kirche ziert. Escobedos Figuren stehen für Millionen von echten Menschen, die fliehen müssen. Durch diese Ruhe bekommen die Betrachtenden die Möglichkeit, sich „greifbar“, nah, emotional und persönlich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Inszeniert in einer Kirche, die der Gottesmutter Maria und damit einer der berühmtesten Flüchtlings-Frauen geweiht ist, strahlt das Werk auch von gegenwärtigen Fragestellungen in die Geschichte zurück.

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Anna und Johannes Blume | Marta Deskur | Helen Escobedo | Julia Krahn | Alexandra Ranner + Peter Riek als Gast